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Steuerrecht in der Inflation – der verfassungsrechtliche Rahmen für den Ausgleich der kalten Progression (Waldhoff, FR 2023, 485)

Ob das Steuerverfassungsrecht einen Inflationsausgleich verlangt, hängt entscheidend von der Justierung des Leistungsfähigkeitsprinzips ab. Entgegen einer vielfach vertretenen Meinung handelt es sich dabei nicht um ein „Realprinzip“, sondern baut auf der Belastungsentscheidung des Steuergesetzgebers für jede Einzelsteuer gesondert auf. Nach dieser Ansicht ist ein Ausgleich der kalten Progression ökonomisch wie politisch sinnvoll, von Verfassungs wegen jedoch nicht gefordert.


I. Funktion des Geldes und seines Geldwerts im Steuerstaat

II. Bisherige Verfassungsrechtsprechung zu Inflation und Nominalwertprinzip

III. Drei steuerlich relevante Felder: kalte Progression – Scheingewinne – Verzinsung

IV. Verfassungsrechtliche Pflicht zum Ausgleich der kalten Progression?

1. Das Leistungsfähigkeitsprinzip

a) Leistungsfähigkeitsprinzip als „Realprinzip“?

b) Ausnahme: Steuerliches Existenzminimum

c) Der „Einbruch des Realen“ über die Verhältnismäßigkeitsprüfung

aa) Abzüge mit Lenkungsintention/Steuersubventionen

bb) Abzugsbeträge aus Vereinfachungsgründen, v.a. Pauschalierungen

2. Unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Einkunftsarten als Problem einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung

3. Reale Problembewältigung

4. Staatsorganisationsrechtliche Aspekte: Das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip


I. Funktion des Geldes und seines Geldwerts im Steuerstaat

Die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Rahmen für Besteuerungsvorgänge in Zeiten ausgeprägter Geldentwertung – wie wir sie zur Zeit gerade durchlaufen – muss, will sie grundsätzlich ansetzen, mit der Funktion des Geldes und seines Geldwerts im Steuerstaat beginnen. Die „klassische“ Frage ist diejenige nach einer staatlichen Pflicht zur Geldwertstabilität. Mag die Geldverfassung des Grundgesetzes auch textlich bescheiden daherkommen, fällt gleichwohl auf, dass die Geldwertstabilität gleich mehrfach betont wird: Seit der großen Finanzreform 1967/69 mit der Implementierung der seinerzeit modernen Globalsteuerung erschien sie zumindest in der authentischen einfachrechtlichen Konkretisierung des sog. magischen Vierecks neben den anderen wirtschaftspolitischen Zielen wie Vollbeschäftigung, Außenhandelsgleichgewicht und Wirtschaftswachstum; nach wie vor findet sich das – inzwischen eingebettet in unionale Ziele – in Art. 109 Abs. 2 GG. Seit dem Maastricht-Vertrag formuliert der Bundesbankartikel 88, dass die Übertragung der währungspolitischen Befugnisse auf die Europäische Zentralbank u.a. voraussetzt, dass diese „dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet“ ist. Das ist im Unionsrecht durch die Hervorhebung der Preisstabilität in Art. 127 Abs. 1 AEUV verwirklicht. Das BVerfG hatte im Maastricht-Urteil von 1993 diesen Konnex nicht nur betont, sondern zur Bedingung der deutschen Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion gemacht. Die Hauptdiskussion kreiste jedoch bis zur Euro-Einführung darum, ob aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG ein verfassungsrechtlicher und damit durchsetzbarer Anspruch auf Geldwertstabilität folge. Das hat der Zweite Karlsruher Senat im sog. Euro-Einführungsbeschluss von 1998 völlig überzeugend mit dem Argument zurückgewiesen, dass die Geldwertstabilität von vielfältigen, v.a. auch außerstaatlichen Faktoren abhänge, auf die die Staatsorgane gar keinen entscheidenden Einfluss hätten, dass sie mithin multifaktoriell sei: 

„Allerdings ist der Geldwert in besonderer Weise gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsabhängig. Er bildet sich im Rahmen der staatlichen Währungshoheit und Finanzpolitik wesentlich auch durch das Verhalten der Grundrechtsberechtigten selbst, insbesondere über Preise, Löhne, Zinsen, wirtschaftlichen Einschätzungen und Bewertungen. Der Außenwert des Geldes folgt aus der Beziehung des nationalen Geldes zu anderen Währungen und deren staatliche, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen. In diesen Abhängigkeiten kann der Staat den Geldwert nicht grundrechtlich garantieren. Wie Art. 14 Abs. 1 GG beim Sacheigentum nur die Verfügungsfreiheit des anbietenden Eigentümers, nicht aber die Bereitschaft des Nachfragers gewährleisten kann, so kann das Grundrecht des Eigentümers auch beim Geld nur die institutionellen Grundlagen und die individuelle Zuordnung gewährleisten.“

Ohnehin hätte es zu diesem Zeitpunkt ja auch nur noch um das Handeln der deutschen Vertreter im Europäischen System der Zentralbanken und in den EU-Organen gehen können. Was bleibt also vom verfassungsrechtlichen Status des Geldes in unserer Rechtsordnung und speziell für die Besteuerung? M.E. ist Geld – und zwar funktionsfähiges Geld – eine Verfassungsvoraussetzung, auf der große Teile der Verfassungs- und Wirtschaftsordnung aufbauen. Für die Finanzverfassung und damit auch für die Besteuerung ist das völlig offenkundig: „Geld ist nicht nur das Substrat des Finanzstaates, sondern auch des Steuerwesens“. Verfassungsvoraussetzung ist eine Kategorie mit Reservefunktion: Droht die Funktionsfähigkeit des Geldes zu schwinden, könnten sich im Extremfall daraus sogar Ansprüche ergeben. Für den Normalfall, d.h. die Situation der Nicht-Hyperinflation, etwa in der Gegenwart, erwartet die Verfassungsordnung funktionsfähiges und damit im Kern auch stabiles Geld, kann und will das jedoch nicht grundrechtlich garantieren.

Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.06.2023 14:03
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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