Aktuell in der Ubg
Methodologische Anomalien in der Auslegungspraxis des Gewerbesteuerrechts (Hidien, Ubg 2023, 165)
Der Autor untersucht tradierte Begriffe und Konzepte des Gewerbesteuerrechts, ihre Verwendungsweise und Funktion, im Hinblick auf die Auslegung des Gewerbesteuergesetzes. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Topoi Realsteuer, Objektsteuer, Territorialität und ihre Trabanten (Prinzip, Charakter, Wesen) keinen Auslegungswert besitzen.
I. Problematik und Grundlagen
1. Zum Rechtswert von (Schlag-)Wörtern
2. Steuerrechtstheoretische Prinzipien
II. Realsteuer und Realsteuerprinzip
1. Ursprung
2. Wende
3. Auslegungswert
III. Objektsteuer und Objektsteuerprinzip
1. Objektmerkmale
2. Positivrechtliche Objektivierung
3. Positivrechtliche Modifikationen
4. Systematischer Auslegungswert
5. Rechtsprinzip?
IV. Territorialität und Territorialitätsprinzip
1. Inland und spezifischer Inlandsbezug
2. Positivrechtliche Bestätigung
3. Positivrechtliche Modifikationen
4. Rechtsprinzip?
V. Folgerungen und Fazit
1. Fehlender Auslegungswert
2. Hybride Steuer
I. Problematik und Grundlagen
1. Zum Rechtswert von (Schlag-)Wörtern
Kaum eine gewerbesteuerrechtliche und gewerbesteuerliche Intervention kommt ohne die Ansprache mehr oder weniger ungeschriebener (Argumentations-)Topoi aus. Dies gilt nicht nur für die Rechtsdoktrin, sondern auch für die Rechtsprechung, für die Rechtspraxis und sowohl für Sympathisanten als auch für Kritiker der höchst umstrittenen Steuer. Solche Redeweisen erheben nicht nur einen rechtssystematischen Anspruch, sie sollen offenbar auch eine bestimmte Auslegung des Gesetzes oder ein Auslegungsergebnis begründen, stützen, lenken oder abrunden, mithin einen konkreten Wert für die Auslegung des Gesetzes besitzen. Ob und inwieweit diese Hypothese zutrifft, soll hier am Beispiel folgender gewerbesteuertypischen Ausdrücke untersucht werden: Realsteuer, Objektsteuer, Territorialität und ihre qualifizierenden Trabanten (besonders Prinzip, Charakter, Wesen). Alle drei sind keine Gesetzesbegriffe des Gewerbesteuergesetzes, alle drei (Fach-)Ausdrücke haben mehr oder Anknüpfungspunkte im Gewerbesteuerrecht und erheben einen gewissen Auslegungsanspruch. Angesichts ihrer unveränderten Beliebtheit liegt die Vermutung nahe, dass sie gewisse „Besonderheiten“ der Gewerbesteuer zumindest beschreiben, erfassen oder bestenfalls erklären sollen. Funktional vergleichbare „Besonderheiten“ kennen die übrigen Steuern undUbg 2023, 166Steuerarten in diesem Maße nicht. Die Untersuchung wird zeigen, dass diese Eigenschaftszuschreibungen allzu unbekümmert und mit einem unlösbaren rechtsdogmatischen Anspruch verwendet werden, ohne dass ihr Inhalt klar ist oder ihr Rechtsverständnis offengelegt wird.
2. Steuerrechtstheoretische Prinzipien
Nach ihren kontextuellen Verwendungsweisen und Rechtsfunktionen lockern und relativieren solche Topoi besonders auf Prinzipienhöhe vorschnell die rechtsstaatliche Gesetzesbindung und Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung. Auslegungswert haben nur definierte und auf Rechtsfolgen gerichtete Rechtsbegriffe, ohnehin Gesetzesbegriffe, aber auch allgemeine Rechtsgrundsätze bzw. Rechtsprinzipien, sofern diese eine hinreichende Bindung an das Gesetz haben. Keinen Auslegungswert haben umgangssprachliche Worte und Begriffe oder mehr oder weniger zweckmäßige, rechtssystematische oder rechtspolitische Theorien, Kategorien und Begriffe, aber auch solche Regeln oder Grundsätze, die de lege lata (noch) keine Rückanbindung an eine bestimmte Rechtsgrundlage und ihre Bedeutung haben oder keine auslegungsleitende Funktion vorweisen können.
Allgemeine Rechtsgrundsätze sind zumeist ungeschriebene Leitgedanken und Rechtfertigungsgründe einer rechtlichen Regelung, nicht aber die positive Regelung selbst. Solche Leitideen lassen sich kontextunabhängig nur als übergreifende (Rechts-)Maßstäbe beschreiben. Ihre Allgemeinheit meint zunächst ihre Ableitung aus besonderen Rechtsregeln im Wege der Induktion, sodann aber auch ihre Allgemeingültigkeit. Letzteres sollte auch hier verhindern, dass steuertechnische, konkret-historische und gesetzte Steuermerkmale in den Stand eines Prinzips erhoben werden. Ihre Anwendung erfolgt dann deduktiv. Als Rechtsgrundsätze erheben sie den Anspruch, Teil des geltenden Rechts zu sein, verhalten sich aber nicht zur Frage der Rechtsbegründung, sondern stehen lediglich einem allzu engen Gesetzespositivismus entgegen. Eine Rückbindung an das positive Recht setzt jedenfalls voraus, dass ein zuvor ermittelter Grundsatz allgemeingültig ist. Als Grundsätze sind sie durchgängig konkretisierungsbedürftig. Zu den materialen, allgemeinen, z.T. normierten allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören etwa Treu und Glauben, pacta sunt servanda, das Willkürverbot, der Gleichheitsgrundsatz, Rechtsicherheit und Vertrauensschutz. Sie gelten und wirken grundsätzlich auch im strikt gesetzesgebundenen Steuerrecht. Ein gesetzeskonformes Beispiel aus dem Gewerbesteuerrecht: (...)
