Otto Schmidt Verlag


FG Münster v. 27.6.2022 - 15 K 2327/20 AO

EuGH-Vorlage: Reichweite des sog. Reemtsma-Anspruchs

Ist es unionsrechtlich geboten, dass einem Kläger ein Anspruch auf Erstattung der von ihm an seine Vorlieferanten zu viel gezahlten Mehrwertsteuer unmittelbar gegen die Finanzbehörde zusteht, auch wenn noch die Möglichkeit besteht, dass die Finanzbehörde durch die Vorlieferanten aufgrund einer Berichtigung der Rechnungen zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch genommen wird und dann möglicherweise keinen Rückgriff mehr beim Kläger nehmen kann?

Der Sachverhalt:
Der Kläger lieferte Holz, das er von seinen Vorlieferanten mit 19 % Umsatzsteuer erworben hatte, an seine Kunden zum ermäßigten Steuersatz von 7 % weiter. In einem gegen das Finanzamt geführten Rechtsstreit bestätigte das FG Münster, dass der Kläger seine Holzlieferungen zurecht dem ermäßigten Steuersatz unterworfen hatte, führte aber zugleich aus, dass auch die Eingangsleistungen seiner Lieferanten lediglich mit 7 % zu besteuern seien. Dem folgend kürzte das Finanzamt den Vorsteuerabzug des Klägers und forderte die Differenzbeträge von ihm zurück. Der Kläger trat an seine Vorlieferanten mit der Bitte heran, ihre Rechnungen zu berichtigen und ihm die Differenz auszuzahlen. Diese machten jedoch die zivilrechtliche Einrede der Verjährung geltend.

Daraufhin stellte der Kläger beim Finanzamt den Antrag, die Differenzbeträge aus Billigkeitsgründen zu erlassen und berief sich hierzu auf das "Reemtsma-Urteil" des EuGH (vom 15.3.2007 - C-35/05). Diesen Antrag lehnte das Finanzamt ab, weil der Kläger selbst für die Situation verantwortlich sei, denn er habe die Ware nicht mit einem veränderten Steuersatz weiterveräußern dürfen. Hiergegen richtet sich die Klage des Klägers.

Das FG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH entsprechende Fragen zur Vorabentscheidung vor.

Die Gründe:
Dem EuGH wird die Frage vorgelegt, ob unter den Umständen des Streitfalls ein Direktanspruch auf Erstattung der Umsatzsteuer gegen das Finanzamt in Betracht kommt.

Grundsätzlich ist es unionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass bei zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer der leistende Unternehmer einen Erstattungsanspruch gegen die Finanzbehörde hat und der Leistungsempfänger auf den Zivilrechtsweg gegen den Leistenden verwiesen wird. Nach dem "Reemtsma-Urteil" (und weiteren Folgeentscheidungen des EuGH) besteht aber wegen des Grundsatzes der Effektivität ausnahmsweise ein unmittelbarer Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers gegen die Finanzbehörde, wenn die Erstattung unmöglich oder übermäßig erschwert wird. Im deutschen Recht kann dieser Anspruch im Billigkeitsverfahren (§§ 163, 227 AO) geltend gemacht werden.

Es bestehen Zweifel, ob die EuGH-Rechtsprechung, die stets Fälle der Zahlungsunfähigkeit der jeweils leistenden Unternehmer betraf, auf den vorliegenden Fall Anwendung findet. Zwar ist es dem Kläger aufgrund der Einrede der Verjährung zivilrechtlich nicht mehr möglich, seine Ansprüche gegen seine Vorlieferanten durchzusetzen. Diese haben allerdings zeitlich unbegrenzt die Möglichkeit, ihre Rechnungen nach § 14c Abs. 1 UStG zu berichtigen und von der Finanzbehörde die zu viel gezahlten Umsatzsteuerbeträge erstattet zu bekommen. Gesteht man dem Kläger einen Direktanspruch zu, muss das Finanzamt in diesem Fall von ihm eine Rückzahlung verlangen, was z.B. bei zwischenzeitlich eingetretener Zahlungsunfähigkeit zu einer doppelten Erstattung führen kann. Nach Auffassung des Senats musste der Kläger vielmehr Vorkehrungen zur Sicherung seiner zivilrechtlichen Ansprüche, z.B. durch rechtzeitige Einholung des Verzichts auf die Einrede der Verjährung, treffen.

Mehr zum Thema:

Verwaltungsanweisungen:

Direktanspruch in der Umsatzsteuer; Veröffentlichung der BFH-Urteile v. 30.6.2015 (BFH, Urt. v. 30.6.2015 – VII R 30/14, UR 2015, 802) und vom 22.8.2019 (BFH, Urt. v. 22.8.2019 – V R 50/16, UR 2020, 28)
UR 2022, 437

Verwaltungsanweisungen:
Direktanspruch in der Umsatzsteuer
Ralf Walkenhorst, UStB 2022, 178

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.07.2022 15:39
Quelle: FG Münster PM vom 15.7.2022

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