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Großer Senat: Aufgabe des subjektiven Fehlerbegriffs hinsichtlich bilanzieller Rechtsfragen

Das FA ist i.R.d. ertragsteuerrechtlichen Gewinnermittlung auch dann nicht an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz (und deren einzelnen Ansätzen) zugrunde liegt, wenn diese Beurteilung aus Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar ist.

BFH v. 31.1.2013 – GrS 1/10

Das Problem: Mit Beschluss vom 7.4.2010 hatte der I. Senat des BFH dem Großen Senat des BFH die Frage vorgelegt, ob der subjektive Fehlerbegriff in Bezug auf nach der Bilanzaufstellung bekanntgewordene Tatsachen beizubehalten ist (BFH v. 7.4.2010 – I R 77/08, EStB 2010, 203 = BStBl. II 2010, 739).

Ist der subjektive Fehlerbegriff hinsichtlich bilanzieller Rechtsfragen beizubehalten? Für die Beurteilung, ob eine beim FA eingereichte Bilanz „fehlerhaft“ in dem Sinne ist, dass das FA sich von den Bilanzansätzen des Steuerpflichtigen lösen kann, galt nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH auch hinsichtlich der Beurteilung von Rechtsfragen ein subjektiver Maßstab. War die einer Bilanz oder einem Bilanzansatz zugrunde liegende rechtliche Beurteilung im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns vertretbar, war das FA daran bei der Steuerfestsetzung auch dann gebunden, wenn diese Beurteilung objektiv fehlerhaft war.

Im Ausgangsverfahren war streitig, wie die verbilligte Handy-Abgabe bilanzsteuerrechtlich zu beurteilen ist. Die Klägerin war der Ansicht, die verbilligte Überlassung stelle einen Aufwand dar, der bereits bei der Handy-Abgabe im vollen Umfang gewinnmindernd zu erfassen sei. Diese Ansicht der Klägerin entsprach im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung der kaufmännischen Sorgfalt und war damit subjektiv nicht fehlerhaft. Erst später entwickelte sich die Rechtsprechung, wonach der Aufwand durch Ansatz eines aktiven Rechnungsabgrenzungspostens (RAP) periodengerecht über die Laufzeit des Handy-Vertrages zu verteilen war.

Die Lösung des Gerichts: Abweichung von bisheriger Rechtsprechung: Der Große Senat des BFH hat nunmehr entschieden, dass das FA – abweichend von der bisherigen Rechtsprechung – i.R.d. ertragsteuer-rechtlichen Gewinnermittlung auch dann nicht an die rechtliche Beurteilung gebunden ist, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz (und deren einzelnen Ansätzen) zugrunde liegt, wenn diese Beurteilung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar war. Beachten Sie: Das gilt auch für eine in diesem Zeitpunkt von Verwaltung und Rechtsprechung praktizierte, später aber geänderte Rechtsauffassung.

Verpflichtung, die objektiv richtige Rechtslage zugrunde zu legen: Eine Bindung des FA an eine objektiv unzutreffende, aber im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns vertretbare rechtliche Beurteilung, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Handels oder Steuerbilanz oder deren einzelnen Ansätzen zugrunde liegt, lasse sich nach Ansicht des Großen Senats des BFH

  • weder aus § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG
  • noch aus § 4 Abs. 2 EStG

ableiten. Die Finanzverwaltung und die Gerichte seien insbesondere aus verfassungsrechtlichen Gründen verpflichtet, ihrer Entscheidung die objektiv richtige Rechtslage zugrunde zu legen. Dies gelte unabhängig davon, ob sich die unzutreffende Rechtsansicht des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten oder zu seinen Lasten ausgewirkt habe. Eine Übergangsregelung sei – so der BFH – nicht zu treffen.

Konsequenzen für die Praxis: Die Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung hat weitreichende Folgen für die Praxis:

Nach der bisherigen Rechtslage hinderte der subjektive Fehlerbegriff zum einen den Steuerpflichtigen, einen objektiv falschen Bilanzansatz zu seinen Gunsten zu korrigieren, wenn dieser subjektiv richtig war. Andererseits hinderte der subjektive Fehlerbegriff das FA, einen objektiv falschen, aber subjektiv richtigen Ansatz zu Lasten des Steuerpflichtigen zu ändern.

Nach der Entscheidung des Großen Senats gilt dies nicht mehr. Künftig sind höchstrichterliche Urteile, die nach Aufstellung der Bilanz ergehen, grundsätzlich zu Gunsten wie zu Lasten der Steuerpflichtigen anzuwenden. Bei Änderungen zu Lasten des Steuerpflichtigen kann allerdings die Vertrauensschutzregelung des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO eingreifen. Danach darf bei einer Änderung nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass sich die Rechtsprechung des BFH geändert hat, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung angewandt worden ist (vgl. allg. dazu Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 176 AO Tz. 14 ff. [Jan. 2012]).

Nicht entschieden hat der Große Senat des BFH über die Anwendung des subjektiven Fehleberbegriffs auf Fälle, in denen der Steuerpflichtige bei der Bilanzierung von unzutreffenden Tatsachen (Prognosen oder Schätzungen) ausgegangen ist, ohne dabei gegen die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten verstoßen zu haben. Über diese Frage hatte der Große Senat nicht zu entschieden, so dass es insoweit (zunächst) beim subjektiven Fehlerbegriff bleibt.

Beraterhinweis: Bilanzierungsfehler sind – wie bisher – bei der Steuerfestsetzung oder Gewinnfeststellung für den Veranlagungszeitraum zu berücksichtigen, in dem der Fehler erstmals aufgetreten ist. Ist aus verfahrensrechtlichen Gründen eine Änderung nicht mehr möglich, so ist nach dem Grundsatz des formellen Bilanzzusammenhangs der unrichtige Bilanzansatz grundsätzlich bei der ersten Steuerfestsetzung oder Gewinnfeststellung richtigzustellen, in der dies unter Beachtung der für den Eintritt der Bestandskraft und der Verjährung maßgeblichen Vorschriften möglich ist. Daran hat sich durch die Änderung der Rechtsprechung nichts geändert.

RA/FASt/StB Dr. Jürgen Schimmele, Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Düsseldorf

Service: BFH v. 7.4.2010 – I R 77/08, EStB 2010, 203 abrufbar unter www.steuerberater-center.de

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.04.2013 17:02

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