Schuldzinsenabzug: Berücksichtigung von Unterentnahmen vor 1999
Unterentnahmen aus Jahren vor 1999 sind für die Prüfung des Schuldzinsenabzugs im VZ 2001 nicht zu berücksichtigen. Nach der verfassungsgemäßen Übergangsregelung des § 52 Abs. 11 Satz 2 EStG i.d.F. des StÄndG 2001 war im ersten nach dem 31.12.1998 endenden Wirtschaftsjahr ein Kapitalkonto mit Anfangsbestand von „0 DM“ zugrunde zu legen.
BFH v. 9.5.2012 – X R 30/06
Das Problem: Streitig war, ob im Streitjahr 2001 bei der Ermittlung nicht abziehbarer Schuldzinsen nach § 4 Abs. 4a EStG Unterentnahmen zu berücksichtigen waren, die aus Wirtschaftsjahren stammten, die vor dem 1.1.1999 endeten. Der Steuerpflichtige hatte zum Ende des kalenderjahrgleichen WJ 1998 Unterentnahmen durch nicht entnommene Gewinne angesammelt.
Startguthaben-Null-Regelung: Durch das StÄndG 2001 wurde in § 52 Abs. 11 Satz 2 EStG vorgesehen, dass i.R.d. Ermittlung nicht abziehbarer Schuldzinsen nach § 4 Abs. 4a EStG solche Über- und Unterentnahmen unberücksichtigt bleiben, die auf Wirtschaftsjahre entfallen, die vor dem 1.1.1999 endeten. Es wurde hiermit bewirkt, dass für die Ermittlung der nicht abziehbaren Schuldzinsen nach § 4 Abs. 4a EStG von einem Kapitalkonto mit einem Anfangsbestand von „0“ DM („Startguthaben-Null-Regelung“) auszugehen war.
Der Steuerpflichtige verfügte über eben solche Unterentnahmen aus dem Jahr 1998 und begehrte deren Berücksichtigung bei der Berechnung der nicht abziehbaren Schuldzinsen für den VZ 2001. Das FA versagte diese unter Bezugnahme auf die Regelung des § 52 Abs. 11 Satz 2 EStG i.d.F. des StÄndG 2001. Die Klage des Steuerpflichtigen vor dem FG Baden-Württemberg hatte keinen Erfolg (FG BW v. 26.1.2006 – 10 K 99/03, EFG 2006, 1817).
Die Lösung des Gerichts: Der BFH hat die vom Steuerpflichtigen eingelegte Revision als unbegründet zurückgewiesen.
Eindeutiger Gesetzeswortlaut: Der Wortlaut des § 52 Abs. 11 Satz 2 EStG i.d.F. des StÄndG 2001 sei im Hinblick auf die Nichtberücksichtigung von Über- und Unterentnahmen vor dem 1.1.1999 eindeutig und entspreche dem Willen des Gesetzgebers. In der Gesetzesbegründung sei die Berücksichtigung von Über- und Unterentnahmen früherer Jahre wegen erheblicher rechtlicher und praktischer Bedenken abgelehnt worden (vgl. hierzu BT-Drucks. 14/6877, S. 28). Für eine Beschränkung des Anwendungsbereichs der Norm auf Überentnahmen unter gleichzeitiger Berücksichtigung von Unterentnahmen früherer Jahre sei kein Raum.
Zulässige tatbestandliche Rückanknüpfung: Die von Teilen der Literatur vertretene Auffassung, die Startguthaben-Null-Regelung bewirke in Fällen bestehender früherer Unterentnahmen eine unzulässige echte Rückwirkung und verstoße gegen Art. 3 GG, teilt der BFH nicht. Für das Streitjahr 2001 bejaht er vielmehr eine zulässige tatbestandliche Rückanknüpfung (sog. unechte Rückwirkung). Nach der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG komme es für die Abgrenzung zwischen echter und unechter Rückwirkung maßgeblich auf den Zeitpunkt des Entstehens der Steuerschuld an. Bei der Einkommen- und Gewerbesteuer handele es sich um Steuern, die mit Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres entstehen (§ 38 AO i.V.m. § 36 Abs. 1, § 25 EStG; § 14 Satz 2, § 18 GewStG). Das StÄndG wurde bereits am 22.12.2001 – und damit vor dem Jahresende 2001 – verkündet, woraus sich ergibt, dass nachträglich ein noch nicht abgeschlossener Sachverhalt anders bewertet wird.
Die Startguthaben-Null-Regelung sieht der BFH für rechtmäßig an, weil der Gesetzgeber zu Vereinfachungen und Typisierungen grundsätzlich befugt ist. Nach Überzeugung der Richter will die Regelung die Verhältnisse der Vergangenheit unberücksichtigt lassen und einen Neuanfang beabsichtigen. Den legitimen Zweck der Regelung sehen sie darin, die Berechnung der relevanten Über- und Unterentnahmen neu zu beginnen. Die hiermit verbundene Zäsur zum Jahreswechsel 1998/1999 nehmen sie vor dem Hintergrund einer völligen Systemumstellung und aus Gründen der Praktikabilität in Kauf.
Konsequenzen für die Praxis: In der Praxis erwartete Entscheidung: Das Urteil des BFH wurde in der Praxis erwartet und beendet einen im steuerlichen Schrifttum heftig geführten Streit über die Verfassungsmäßigkeit der Nichtberücksichtigung von Über- und Unterentnahmen aus Jahren vor dem 1.1.1999 i.R.d. § 4 Abs. 4a EStG.
Teile des Schrifttums halten die Regelung des § 52 Abs. 11 Satz 2 EStG i.d.F. des StÄndG 2001 für verfassungswidrig (vgl. Schallmoser in: H/H/R, EStG, § 4 Rz. 1037 [Okt. 2011]; Korn in: Korn, EStG, § 4 Rz. 837 [Juni 2006]; Ley, DStR 2006, 301; Paus, FR 2006, 412; vgl. auch Heinicke in: Schmidt, EStG, 31. Aufl. 2012, § 4 Rz. 530).
Der X. Senat befasste sich bereits in seinem Urteil vom 21.9.2005 mit der Regelung des § 52 Abs. 11 Satz 2 EStG i.d.F. des StÄndG 2001. Gegenstand des damaligen Revisionsverfahrens war die Frage, ob Unterentnahmen aus Jahren vor dem 1.1.1999 in den VZ 1999 und 2000 zu berücksichtigen waren. Die Richter bejahten die Frage unter Hinweis darauf, dass der um den Satz 2 ergänzte § 52 Abs. 11 EStG mit dem Tag seiner Verkündung am 22.12.2001 erstmals Relevanz für den VZ 2001 entfalten konnte (vgl. BFH v. 21.9.2005 - X R 47/03, BStBl II 2006, 504 unter II. 4 c = EStB 2006, 3). Eine Erstreckung seiner Regelung auf VZ vor 2001 hätte hingegen eine unzulässige echte Rückwirkung dargestellt.
Konsequente Folgeentscheidung: Insoweit stellt das Besprechungsurteil die konsequente Folgeentscheidung dar, die an die Ausführungen im Urteil vom 21.9.2005 anknüpft und zudem die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des BVerfG aufgreift und berücksichtigt.
Keine verfassungsrechtlichen Bedenken: Dem Vorbringen des Steuerpflichtigen als auch den im steuerlichen Schrifttum geäußerten Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift im Hinblick auf einen Verstoß gegen Vertrauensgrundsätze und den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 GG tritt der X. Senat ebenfalls entgegen. Ein Vertrauen auf eine weitere Berücksichtigung von Unterentnahmen i.R.d. § 4 Abs. 4a EStG hält er für nicht schutzwürdig, da die Frage einer Berücksichtigung von vor dem 1.1.1999 entstandenen Unterentnahmen schon bei Einführung der Vorschrift im Jahr 1999 umstritten war. Bei Fehlen einer eindeutigen Rechtslage könne kein solches Vertrauen begründet werden. Während sich aus dem Urteil vom 21.9.2005 bereits herauslesen ließ, dass der X. Senat wohl für das Jahr 2001 eine Nichtberücksichtigung von vor dem 1.1.1999 entstandenen Unterentnahmen im Grundsatz auszugehen schien, war offen, ob er diese letztlich an Art. 3 GG scheitern lassen würde (vgl. hierzu BFH v. 21.5.2010 – IV B 88/09, BFH/NV 2010, 1613 unter 16 b)). Im Urteil fanden sich zumindest entsprechende Andeutungen, die im Schrifttum aufgegriffen und interpretiert wurden (vgl. Ley, DStR 2006, 301, 305; Korn in: Korn, EStG, § 4 Rz. 837 [Juni 2006]).
Mit dem nun vorliegenden Besprechungsurteil stellt der X. Senat klar, dass er eine verfassungswidrige Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte nicht erkennt bzw. diese für unerlässlich erachtet. Er weist darauf hin, dass die Neuregelung des § 52 Abs. 11 Satz 2 EStG i.d.F. des StÄndG 2001 die Funktion hat, „einen klaren Schnitt zu ziehen“ und nur noch neue Sachverhalte betreffen soll. Hierzu ist der Gesetzgeber bei Neuregelungen grundsätzlich berechtigt. Etwaige mit der Neuregelung verbundene übergangsbedingte Zäsuren und stichtagsbedingte Härten liegen in der Natur der Sache; jede Neuregelung führe gegenüber der Altregelung zu einer Ungleichbehandlung.
Insoweit sorgt der X. Senat mit dem Besprechungsurteil für eine Klarstellung seiner früheren Rechtsprechung und beendet die im steuerlichen Schrifttum geführte Diskussion zur Verfassungsmäßigkeit des § 52 Abs. 11 Satz 2 EStG i.d.F. des StÄndG 2001, nachdem andere Senate des BFH die Frage offen gelassen haben (vgl. etwa Beschluss des IV. Senats: BFH 21.5.2010 – IV B 88/09, BFH/NV 2010, 1613; Beschluss des VIII. Senats: BFH v. 15.1.2004 – VIII B 253/03, BFH/NV 2004, 780).
Beraterhinweis: Das dem Besprechungsurteil zugrunde liegende Verfahren war bis zum Ergehen der Entscheidungen des BVerfG zu den Fragen der Rückwirkung (anderer) steuerrechtlicher Normen ruhend gestellt. Mit den Beschlüssen vom 7.7.2010 hat das BVerfG in den jeweiligen Verfahren entschieden (vgl. Beschlüsse des BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06, BStBl II 2011, 76 ff). Der BFH greift die Beschlüsse des BVerfG im Besprechungsurteil auf und wendet die dort getroffenen Grundsätze an.
Unmittelbare Bedeutung kommt dem Besprechungsurteil nur für Altfälle zu, bei denen die Ermittlung nicht abzugsfähiger Schuldzinsen im VZ 2001 streitig war.
Mittelbar bedeutsam ist das Urteil aber auch deshalb, weil es die Rechtsprechungsgrundsätze des BVerfG zur Rückwirkung im Steuerrecht in der Praxis anwendet.
Als wesentlich bleibt festzuhalten, dass für die Abgrenzung
- einer unzulässigen echten Rückwirkung
- von der zulässigen tatbestandlichen Rückanknüpfung (unechte Rückwirkung)
maßgeblich auf die Zeitpunkt der Gesetzesverkündung und der Steuerentstehung abzustellen ist. Gesetzgeberische Regelungen mit Wirkungen für die Vergangenheit gelten als zulässige tatbestandliche Rückanknüpfung (unechte Rückwirkung), solange die Gesetzesverkündung vor dem Zeitpunkt der Steuerentstehung im relevanten Veranlagungszeitraum erfolgt (vgl. Beschlüsse des BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06, BStBl. II 2011, 76 ff).
RA/StB/FASt Dr. Mirko Wolfgang Brill, M.R.F., Carlé_Korn_Stahl_Strahl, Köln
Service: BFH v. 21.9.2005 – X R 47/03, EStB 2006, 3 ; Brill, Die aktuelle Rechtsprechung zum Schuldzinsenabzug – Bedeutsame Folgen für die Beratungspraxis, EStB 2012, 297 (in diesem Heft) abrufbar unter www.steuerberater-center.de