Otto Schmidt Verlag


Höhe der Bemessungsgrundlage für unentgeltliche Wertabgabe in sog. „Seeling-Fällen“

Ordnet ein Unternehmer ein privat und unternehmerisch (gemischt)genutztes Gebäude in vollem Umfang seinem Unternehmen zu, kann er in vollem Umfang den Vorsteuerabzug aus den Bauerrichtungskosten in Anspruch nehmen und hat für den privat genutzten Gebäudeteil eine unentgeltliche Wertabgabe zu besteuern (sog. Seeling-Rechtsprechung vor Inkrafttreten der Neuregelung in § 15 Abs. 1b UStG).

Die Änderung der Bemessungsgrundlage für die unentgeltliche Wertabgabe in diesen Fällen dahingehend, dass ab dem 1.7.2004 10 % der Herstellungskosten des Gebäudes über einen Zeitraum von zehn Jahren zugrunde zu legen sind, ist unionsrechtskonform und verstößt nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot.

BFH v. 12.8.2015 - XI R 6/13

Der Kläger K war Rechtsanwalt. Von 2003 bis 2004 ließ er ein Gebäude errichten, das er nach dessen Fertigstellung überwiegend privat als Wohnhaus nutzte. Die unternehmerische Nutzung betrug 10,89 % der Gesamtnutzfläche. In der Umsatzsteuervoranmeldung für September 2003 ordnete K das Gebäude voll seinem Unternehmensvermögen zu. In den Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2003 und 2004 machte er den vollen Vorsteuerabzug geltend. Hinsichtlich der privaten Nutzung in den Streitjahren 2004 bis 2007 erklärte er eine unentgeltliche Wertabgabe. Bei der Bemessung dieser unentgeltlichen Wertabgabe orientierte er sich an der Regelung des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG in der bis einschließlich 30.6.2004 geltenden Fassung. Das FA stellte dagegen für den Zeitraum ab dem 1.7.2004 auf die durch das EURLUmsG vom 9.12.2004 geänderte Vorschrift des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG ab und gelangte so zu einer deutlich höheren Bemessungsgrundlage. Die Revision des K war unbegründet, denn auch nach Ansicht des BFH hatte die Bemessung der unentgeltlichen Wertabgabe ab dem 1.7.2004 gem. § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG n.F. zu erfolgen.

Seeling-Urteil: Der EuGH (v. 8.5.2003 - Rs. C-269/00, BStBl. II 2004, 378) hat in der Rechtssache Seeling klargestellt, dass ein Steuerpflichtiger, der ein Gebäude insgesamt seinem Unternehmen zuordnet und später einen Teil dieses Gebäudes für seinen (privaten) Bedarf verwendet, zum Abzug der auf die gesamten Herstellungskosten dieses Gebäudes entrichteten Vorsteuerbeträge berechtigt ist. Der Steuerpflichtige ist dann jedoch verpflichtet, die Mehrwertsteuer auf den Betrag der Ausgaben für diese Verwendung zu zahlen. Aufgrund dieser EuGH-Entscheidung ist der BFH in seinem Urteil vom 24.7.2003 (V R 39/99, BStBl. II. 2004, 371) zu dem Ergebnis gekommen, dass in den so genannten Seeling-Fällen die nichtunternehmerische Verwendung des Gebäudes als steuerpflichtiger Eigenverbrauch - nunmehr als unentgeltliche Wertabgabe i.S.d. § 3 Abs. 9a Nr. 1 UStG - der Umsatzbesteuerung unterliegt.

Unentgeltliche Wertabgabe: Nach § 3 Abs. 9a Nr. 1 UStG wird einer sonstigen Leistung gegen Entgelt u.a. gleichgestellt, die Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands, der zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt hat, durch einen Unternehmer für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen. Diese Voraussetzungen waren im Urteilsfall erfüllt, so dass K eine unentgeltliche Wertabgabe zu versteuern hatte. Uneinigkeit herrschte aber darüber, ob ab dem 1.7.2004 die Bemessungsgrundlage für die unentgeltliche Wertabgabe nach der alten oder neuen Fassung des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG zu berechnen war.

Bemessungsgrundlage nach altem Recht: Gem. § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG a.F. war eine sonstige Leistung nach § 3 Abs. 9a Satz 1 Nr. 1 UStG nach den bei der Ausführung dieser Umsätze entstandenen Kosten, soweit sie zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt hatten, zu bemessen. Dabei war grundsätzlich von den bei der Einkommensteuer zugrunde gelegten Kosten, d.h. bezüglich der Herstellungskosten eines Gebäudes von einer jährlichen Abschreibung nach § 7 Abs. 4 EStG i.H.v. 2 % auszugehen.

Bemessungsgrundlage ab 1.7.2004: Seit dem 1.7.2004 wird der Umsatz nach § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG n. F. bei sonstigen Leistungen i.S.d. § 3 Abs. 9a Nr. 1 UStG nach den bei der Ausführung dieser Umsätze entstandenen Ausgaben, soweit sie zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt haben, bemessen. Zu diesen Ausgaben zählen auch die Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines Wirtschaftsguts, soweit das Wirtschaftsgut dem Unternehmen zugeordnet ist und für die Erbringung der sonstigen Leistung verwendet wird. Betragen die Anschaffungs- oder Herstellungskosten mindestens 500 Euro, sind sie gleichmäßig auf einen Zeitraum zu verteilen, der dem für das Wirtschaftsgut maßgeblichen Berichtigungszeitraum nach § 15a UStG entspricht. Nach § 15a Abs. 1 Satz 2 UStG beträgt der Berichtigungszeitraum bei Grundstücken zehn Jahre, Daher ist die unentgeltliche Wertabgabe grundsätzlich jährlich in Höhe von 10 % der Gebäudeherstellungskosten anzusetzen.

Unionsrechtskonform: Mit Blick auf die Rechtsache Wollny (EuGH v. 14.9.2006 - Rs. C-72/05, BStBl. II 2007, 32) ging der BFH davon aus, dass § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG n.F. den Vorgaben des Unionsrechts entspreche.

Rückwirkungsverbot: § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG n.F. wurde durch das EURLUmsG vom 9.12.2004 eingeführt und galt rückwirkend ab dem 1.7.2004. Insoweit stellte sich im Urteilsfall die Frage, ob ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vorlag. Es ist zwischen echter und unechter Rückwirkung zu unterscheiden. Die echte Rückwirkung einer gesetzlichen Regelung ist im Unterschied zur unechten Rückwirkung grundsätzlich nicht mit der Verfassung vereinbar. Im Steuerrecht kann nur dann eine echte Rückwirkung vorliegen, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert. Eine echte Rückwirkung ist jedoch zulässig, wenn der Betroffene schon im Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht darauf vertrauen durfte, dass die gesetzliche Regelung fortbestehen wird, sondern mit deren Änderung rechnen musste.

Urteilsfall: K musste (spätestens) ab dem 1.7.2004 mit einer Änderung des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG a.F. rechnen. Denn nach dem veröffentlichten BMF-Schreiben vom 13.4.2004 (IV B 7 - S 7206- 3/04, BStBl. I 2004, 468, UR 2004, 331) waren ab dem 1.7.2004 bei der Ermittlung der Kosten i.S.v. § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG a.F. die Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines Gegenstands abweichend von den ertragsteuerrechtlichen Grundsätzen gleichmäßig auf den nach § 15a UStG für diesen Gegenstand jeweils maßgeblichen Berichtigungszeitraum zu verteilen. Auch nach Ergehen des Seeling-Urteils vom 8.5.2003 konnte sich kein schutzwürdiges Vertrauen des K auf den Fortbestand der Regelung in § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG a.F. entwickelt haben. Denn die Entscheidung des EuGH führte zu einer Besteuerungslücke. Dem vollen Vorsteuerabzug bei gemischt genutzten Gebäuden stand - aufgrund der in § 7 Abs. 4 EStG vorgesehenen Verteilung der Herstellungskosten auf 50 Jahre - nur eine geringfügige anteilige Besteuerung der Privatnutzung gegenüber. Der BFH kam daher zu dem Ergebnis, dass selbst dann, wenn im Urteilsfall eine echte Rückwirkung vorgelegen hätte, dies mit der Verfassung vereinbar gewesen wäre.

Beraterhinweis: Der BFH hat durch dieses Urteil die bereits in einigen finanzgerichtlichen Entscheidungen vertretenen Auffassungen nunmehr höchstrichterlich bestätigt (vgl. z.B. FG Münster v. 4.3.2010 - 5 K 3484/08 U). Durch die neue Fassung des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG wird innerhalb von zehn Jahren eine völlige Kompensation des Vorsteuerabzugs bewirkt, den der Steuerpflichtige bei gemischt genutzten Grundstücken vollständig in Anspruch nehmen konnte, wenn er das Grundstück insgesamt seinem Unternehmen zugeordnet hatte. Im Ergebnis wird der Unternehmer insoweit einem Privatkonsumenten gleichgestellt (FG Rheinland-Pfalz v. 19.3.2013 - 3 K 2285/10).

RAin Hildegard Billig, Düsseldorf

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.11.2015 15:10

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