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EuGH-Vorlage zum Umfang des in § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG geregelten Ausschlusses des Vorsteuerabzugs

Dem EuGH wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Gilt Art. 1 der Entscheidung des Rates v. 19.11.2004 (2004/817/EG), der Deutschland ermächtigt, abweichend von Art. 17 Abs. 2 der 6. EG-RL Ausgaben für solche Gegenstände und Dienstleistungen vom Abzug der Mehrwertsteuer auszuschließen, die zu mehr als 90 % für private Zwecke des Steuerpflichtigen oder seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke genutzt werden, (entsprechend seinem Wortlaut) nur für die in Art. 6 Abs. 2 der 6. EG-RL (Art. 26 MwStSystRL) geregelten Fälle oder darüber hinaus in sämtlichen Fällen, in denen ein Gegenstand oder eine Dienstleistung nur teilweise unternehmerisch genutzt wird?

BFH v. 16.6.2015 - XI R 15/13

Der Kläger K war ein Landkreis. Zu seinen hoheitlichen Aufgaben zählten der Bau, die Unterhaltung und Erhaltung der Verkehrssicherheit der Straßen in seinem Gebiet. Diese Aufgaben erfüllte er durch einen Eigenbetrieb ohne Rechtspersönlichkeit. Entsprechend seiner Satzung war der Eigenbetrieb neben der Erfüllung der hoheitlichen Aufgaben dazu befugt, Leistungen an Dritte zu erbringen, die in gleicher Weise von privaten Bau- oder Landschaftsgestaltungsunternehmen erbracht wurden. Insoweit war K wirtschaftlich (unternehmerisch) tätig und erbrachte steuerbare und steuerpflichtige Leistungen. Im Streitjahr 2008 erwarb K verschiedene Gegenstände, die er zu 97,35 % zur Erfüllung seiner hoheitlichen Aufgaben (Straßenbaulast) und zu 2,65 % zur Erbringung von steuerpflichtigen Leistungen gegenüber Dritten verwendete. Nach Meinung des FA war K (auch) bezüglich seiner unternehmerischen Tätigkeiten (2,65 %) nicht zum Vorsteuerabzug befugt, da die angeschafften Gegenstände nicht gem. § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG zu mindestens 10 % für sein Unternehmen  genutzt worden waren. Der BFH hat die Sache dem EuGH vorgelegt.

Vorsteuerabzugsberechtigung nach EuGH und BFH: Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH und BFH hat ein Steuerpflichtiger insoweit ein Recht zum Vorsteuerabzug, als er Leistungen für sein Unternehmen und damit für seine wirtschaftlichen Tätigkeiten zur Erbringung entgeltlicher Leistungen zu verwenden beabsichtigt. Ein Vorsteuerabzug scheidet aus, soweit ein Unternehmer eine Verwendung für eine nichtwirtschaftliche Tätigkeit beabsichtigt. Soll die vom Unternehmer bezogene Leistung ausschließlich für unternehmensfremde Zwecke i.S.v. Art. 26 MwStSystRL, § 3 Abs. 9a UStG verwendet werden, ist er nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt. Aus diesen Grundsätzen ergibt sich, dass im Vorlageverfahren der Vorsteuerabzug ausgeschlossen war, soweit K die angeschafften Gegenstände (zu 97,35 %) für seine hoheitlichen Aufgaben verwendete. Denn bei der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben handelt es sich um - nicht von der Mehrwertsteuer erfasste - nichtwirtschaftliche Tätigkeiten. Zu 2,65 % verwendete K die angeschafften Gegenstände direkt und unmittelbar für Zwecke seiner besteuerten Umsätze. Nach der Regelung des Art. 168 Buchst. a MwStSystRL stand ihm daher insoweit ein Vorsteuerabzugsrecht zu.

Einschränkung der Vorsteuerabzugsberechtigung durch nationales Recht: Die Vorsteuerabzugsberechtigung eines Unternehmers wird jedoch durch § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG eingeschränkt. Danach gilt die Lieferung, die Einfuhr oder der innergemeinschaftliche Erwerb eines Gegenstands, den der Unternehmer zu weniger als 10 % für sein Unternehmen nutzt, nicht als für das Unternehmen ausgeführt.

Unionsrechtliche Grundlage des § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG: Nach Art. 395 Abs. 1 MwStSystRL (früher Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-RL) kann der Rat auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern. Durch Art. 1 der Entscheidung 2004/817/EG vom 19.11.2004 wurde Deutschland ermächtigt, abweichend von Art. 17 Abs. 2 der 6. EG-RL Ausgaben für solche Gegenstände vom Abzug der Mehrwertsteuer auszuschließen, die zu mehr als 90 % für private Zwecke des Steuerpflichtigen oder seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke genutzt werden. Aufgrund dieser Ermächtigung betrachtete sich der deutsche Gesetzgeber als dazu befugt, die Regelung des § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG zu schaffen.

Vorlagefrage: Der BFH fragt sich jedoch, wie die Entscheidung 2004/817/EG zu verstehen ist. Gilt die Ermächtigung auch dann, wenn - wie im Vorlageverfahren - ein Gegenstand zu mehr als 90 % für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen, verwendet wird? Der BFH zweifelt daran.

Im Streitjahr herrschende Rechtsauffassung: Im Streitjahr 2008 unterschied man bezüglich des Vorsteuerabzugs lediglich zwischen einer Nutzung für Zwecke des Unternehmens, d.h. für die selbständig ausgeübte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit (§ 2 Abs. 1 Sätze 1 und 3 UStG) und einer Verwendung für nichtunternehmerische Zwecke. Zu Letzteren zählten sowohl die nichtwirtschaftlichen Tätigkeiten als auch die unternehmensfremden Zwecke i.S.v. Art. 26 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL. Daher wurde die Ermächtigung in Art. 1 der Entscheidung 2004/817/EG so verstanden, dass sie auch eine von der MwStSystRL abweichende Regelung umfasst, die den Vorsteuerabzug bei einer Verwendung zu mehr als 90 % für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten vollständig ausschließt (vgl. Abschn. 2.3 Abs. 1a Sätze 1 und 2 UStAE). Folgt man dieser Ansicht, so wäre die Revision des K als unbegründet zurückzuweisen.

EuGH-Urteil VNLTO: Nach einer Entscheidung des EuGH (EuGH v. 12.2.2009 - Rs. C-515/07, UR 2009, 199) können jedoch Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen, nicht allgemein als unternehmensfremd i.S.d. Art. 26 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL betrachtet werden. Daher wird in der Literatur zum Teil vertreten, dass der Begriff des Unternehmens sowohl die wirtschaftlichen Tätigkeiten als auch die nichtwirtschaftlichen - aber nicht unternehmensfremden - Tätigkeiten umfasst. Nach dieser Ansicht ist die in § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG vorgesehene Regelung nicht von der Ermächtigung in Art. 1 der Entscheidung 2004/817/EG gedeckt, soweit der Vorsteuerabzug auch bei nichtwirtschaftlicher Verwendung zu mehr als 90 % ausgeschlossen ist. Versteht man die Ermächtigung in diesem Sinne, so wäre K zum anteiligen Vorsteuerabzug berechtigt gewesen.

Beraterhinweis: In der Rechtssache VNLTO hat der EuGH geklärt, dass nichtwirtschaftliche - also nichtsteuerbare - Tätigkeiten nicht zwangsläufig unternehmensfremd sind. Denn auch durch nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallende Tätigkeiten kann der Unternehmenszweck erfüllt werden. Unternehmensfremd ist das, was weder direkt noch indirekt dem Interesse des Unternehmens dient. Der Wortlaut des § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG, wonach wesentlich ist, ob der Unternehmer einen Gegenstand zu weniger als 10 % für sein Unternehmen nutzt, steht nicht unbedingt in Widerspruch zu den genannten Grundsätzen. Problematisch ist vielmehr die bisherige Auslegung der Begriffe.

RAin Hildegard Billig, Düsseldorf

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 06.08.2015 16:58

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