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Erfordernis der Divergenzanfrage

Ein Senat des BFH, der von einer Entscheidung eines anderen Senats abweichen will, hat auch dann bei diesem Senat nach § 11 Abs. 3 FGO anzufragen und für den Fall, dass dieser an seiner Rechtsauffassung festhält, den Großen Senat anzurufen, wenn der erkennende Senat zwar nach dem Geschäftsverteilungsplan für die Rechtsfrage zuständig geworden ist, der andere Senat aber weiterhin mit der Rechtsfrage befasst werden kann.

BFH v. 9.10.2014 - GrS 1/13

Vorgelegte Rechtsfrage: Der VI. Senat des BFH hat dem GrS des BFH gemäß § 11 Abs. 4 FGO folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vor­gelegt: Ist ein Senat, der von einer Entscheidung eines anderen Senats des BFH abweichen will, auch dann verpflichtet, gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 FGO bei diesem anzufragen, ob er an seiner bisherigen Rspr. festhält, und für den Fall, dass der angefragte Senat der Änderung der Rspr. nicht zu­stimmt, die streitige Rechtsfrage dem GrS des BFH gemäß § 11 Abs. 2 FGO vorzulegen, wenn der erkennende Senat aufgrund einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans für die streitige Rechtsfrage ‑ hier außergewöhnliche Belastungen (agB) ‑ zuständig geworden ist, wenn "nur diese streitig" ist, der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, jedoch weiterhin mit einer derartigen Rechtsfrage befasst werden kann.

Sachverhalt: Die als Eheleute zusammen veranlagten Kläger machten für 2008 Aufwendungen für die Adoption eines in Äthiopien geborenen Kindes als agB i.S.d. § 33 EStG geltend, da der Ehemann wegen Zeugungsunfähigkeit keine leiblichen Kinder haben könne. Künstliche Befruchtungsmethoden lehnen sie aus ethischen und gesundheitlichen Gründen ab. Das FA berücksichtigte diese Aufwendungen nicht als agB, weil sie nicht zwangsläufig entstanden seien. Die Klage, mit der die Gleichstellung mit einer heterologen Insemination begehrt wurde, blieb erfolglos. Für die Revision über die Rechtsfragen des § 33 EStG ist seit 2009 der VI. Senat des BFH zuständig, nachdem bis 2008 hierfür der III. Senat zuständig war, der allerdings weiterhin zuständig ist für die Anwendung des EStG, also auch für die Anwendung der §§ 33 ff. EStG. Dieser hatte mit zwei Urteilen entschieden, dass Aufwendungen für eine Adoption nicht als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG abgezogen werden können.

Vorlagebeschluss des VI. Senats: Die Vorlagefrage ist nach Auffassung des VI. Senats zu verneinen. Der Senat, der aufgrund einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes vorrangig für ein bestimmtes Rechtsgebiet zuständig geworden sei, könne von der Rspr. eines anderen Senats des BFH ohne vorherige Anfrage bei diesem abweichen. Eine Pflicht zur Vorlage an den GrS sei zu verneinen, da die durch den geänderten Geschäftsverteilungsplan begründete ausschließlichen Zuständigkeit des erkennenden VI. Senates die Gefahr einander widerstreitender Urteile künftig nicht bestehe. Das gelte auch, wenn der bisher zuständige (III.) Senat künftig nur noch gelegentlich in die Lage kommen könne, über die Rechtsfrage zu entscheiden, weil die Zuständigkeit auf einen anderen Senat übergegangen sei, soweit nur diese Rechtsfrage streitig ist. Die seit 2009 in erster Linie dem vorlegenden (VI.) Senat für das Rechtsgebiet der agB zugewiesene Aufgabe der Rechtsfortbildung sei vorrangig vor dem Interesse an der Einheitlichkeit der Rspr., das durch die Verpflichtung zur Vorlage an den GrS in den gesetzlich vorgesehenen Fällen gewahrt werden solle. Der mehrdeutige Wortlaut des § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO stehe einer Änderung der Rspr. ohne Anfrage nicht entgegen. Beabsichtige ein dritter Senat, für den zu keinem Zeitpunkt eine vorrangige Zuständigkeit bestanden habe, von der Rspr. des früher vorrangig zuständigen (III.) Senats abzuweichen, müsse dieser nach § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO beim nunmehr vorrangig zuständigen (VI.) Senat anfragen.

Rechtserheblichkeit der Vorlagefrage: Der VI. Senat hält die vorgelegte Rechtsfrage für entscheidungserheblich. Er sieht sich als zu einer Abweichung von der Rspr. des III. Senats berechtigt an, ohne dass hierin eine Abweichung i.S. von § 11 Abs. 2 und 3 FGO zu sehen sei, die eine Entscheidung durch den GrS erforderlich mache. Dies führe zum Erfolg der Revision.

Rechtsgrund der Vorlage: Die Vorlage wird mit der grundsätzlichen Bedeutung i.S.d. § 11 Abs. 4 FGO begründet, da sich die vorgelegte Rechtsfrage sich nicht nur bei agB stelle, sondern auch bei anderen Materien des Ertragsteuerrechts und der GrS hierüber noch nicht abschließend entschieden habe. Auch andere Senate des BFH seien der Auffassung, dass einen Senat, der vorrangig für ein Rechtsgebiet zuständig sei, keine Pflicht zur Anfrage wegen Divergenz an den GrS treffe, wenn er von einer Entscheidung eines anderen Senats abweichen wolle, der nach wie vor im Zusammenhang mit anderen Streitpunkten mit der streitgegenständlichen Rechtsfrage befasst werden könne.

Zulässigkeit der Vorlage: Der GrS hält die Vorlage des VI. Senats gem. § 11 Abs. 4 FGO für zulässig (wird näher ausgeführt). Sie ist auch entscheidungserheblich, da bei einer Verneinung der Vorlagefrage entsprechend der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats die Revision der Kläger begründet wäre, da der vorlegende Senat abweichend von der bisherigen Rspr. des III. Senats Aufwendungen für eine Adoption als agB gemäß § 33 EStG anerkennen will. Bei einer Bejahung der Vorlagefrage wäre dies nicht möglich, da der III. Senat einer Abweichung seiner bisherigen Rspr. nicht zugestimmt hat.

Entscheidung des GrS über die vorgelegte Rechtsfrage: Nach § 11 Abs. 2 FGO entscheidet der GrS, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des GrS abweichen will. Eine Vorlage an den GrS ist gemäß § 11 Abs. 3 FGO n.F. nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, dieser Abweichung nicht zustimmt. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befasst werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, nunmehr zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluss in der für Urteile erforderlichen Besetzung.

Bisherige Rechtsprechung: Der GrS hat die Vorlagefrage unter Geltung von § 11 FGO a.F. bejaht. Nach dem BFH-Beschluss in BStBl II 1972, 68 gilt die bisherige Rspr., nach der es keiner Anrufung des GrS bedarf, wenn die die früheren Fälle betreffende Zuständigkeit inzwischen auf den nunmehr erkennenden Senat übergegangen ist, nur für den Fall, dass die Beurteilung der zu entscheidenden Frage ausschließlich dem erkennenden Senat zugewiesen ist. Nach den BFH-Beschlüssen in BStBl II 1986, 207 und in BStBl II 1989, 164 liegt eine Abweichung i.S.d. § 11 Abs. 3 FGO auch dann vor, wenn zwar eine Änderung in der Geschäftsverteilung eingetreten ist, der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, aber trotz des Wechsels in der Zuständigkeit jederzeit in die Lage kommen kann, über die Rechtsfrage erneut entscheiden zu müssen.

Auffassung des Großen Senats: Der GrS teilt nicht die Auffassung des vorlegenden Senats. § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO setzt voraus, dass der andere Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, "wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befasst werden [kann]". Dies erfordert bei grammatikalischer Auslegung einen vollständigen Zuständigkeitsverlust des anderen Senats und damit die Unmöglichkeit einer nochmaligen Befassung dieses Senats mit der streitigen Rechtsfrage. Dass § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO in Bezug auf seine Voraussetzungen und Rechtsfolgen als "nicht homogen" anzusehen sein könnte, rechtfertigt keine vom Wortlaut der Vorschrift abweichende Auslegung. An den Gründen, die den GrS bewogen haben, für das Absehen vom Erfordernis einer Anfrage bei einem anderen Senat auf einen vollständigen und nicht nur auf einen schwerpunktmäßigen Zuständigkeitswechsel abzustellen, ist vielmehr unter der Geltung des § 11 FGO n.F. ebenfalls festzuhalten. Auch nach der Neuregelung wäre es "sinnwidrig", einen erkennenden Senat über die Verbindlichkeit der von einem anderen Senat vertretenen Rechtsauffassung entscheiden zu lassen, wenn der bisher für ein bestimmtes Sachgebiet zuständige Senat trotz der Änderung der Geschäftsverteilung aufgrund seiner nunmehr bestehenden Zuständigkeit gleichwohl jederzeit in die Lage kommen kann, die strittige Rechtsfrage erneut entscheiden zu müssen. Gleiches gilt für die Annahme, dass der andere Senat bei einer Entscheidung über die Rechtsfrage seinerseits den GrS anrufen müsse, um seiner ursprünglichen Rechtsansicht Geltung zu verschaffen.

Sicherung der einheitlichen Rspr. durch Pflicht zur Divergenzvorlage: Zu berücksichtigen ist, dass die Einrichtung der GrS bei allen obersten Bundesgerichten vor allem der Siche­rung einer einheitlichen Rechtsprechung dient. Sie herzustellen und zu bewahren ist speziell Aufgabe der obersten Bundesgerichte und durch das im Gleichheitsgrundsatz wurzelnde Postulat der Rechtsanwendungsgleichheit auch verfassungsrechtlich geboten. Die Einheitlichkeit der Rspr. ist ein Gebot der Rechtssicherheit und damit des Rechtsstaatsprinzips. Die Divergenzvorlage soll die Einheitlichkeit der Rspr. nicht nur innerhalb des BFH, sondern in der gesamten Finanzgerichtsbarkeit sichern und so auseinanderdriftendes Recht möglichst verhindern. Die Divergenzvorlage erreicht dies, indem sie Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Senaten des BFH dem GrS zur Entscheidung bringt und damit auf einer gleichsam höheren Ebene zum Ausgleich und zur Koordination bringt. Dementsprechend entfällt eine Vorlagepflicht wegen Divergenz nur, wenn für die Zukunft die Gefahr divergierender Entscheidungen auszuschließen ist. Im Fall der Änderung eines Geschäftsverteilungsplanes setzt dies voraus, dass der früher zuständige Senat mit der in Rede stehenden Rechtsfrage nicht mehr befasst werden kann. Hiervon ist nur dann auszugehen, wenn der abweichungswillige Senat die Zuständigkeit für das Sachgebiet, aus dem die frühere Entscheidung stammt, vollständig übernommen hat, so dass er aufgrund des Wechsels der Geschäftsverteilung für die zu entscheidende Rechtsfrage allein zuständig geworden ist.

Weitergeltung der bisherigen Rspr. des GrS: Für ein Festhalten an der bisherigen Rspr. des GrS sprechen auch die Änderungen in § 11 FGO im Vergleich zu der zuvor bestehenden Rechtslage. § 11 FGO a.F. enthielt keine eigenständige Regelung zum Anfrageverfahren. Vielmehr bestimmte nur § 2 Abs. 2 Satz 2 GeschOBFH 1971, dass anderer Senat der Senat ist, auf den die Zuständigkeit für die Streitfrage übergegangen ist, wenn "sich die Geschäftsverteilung geändert [hat]". Während es somit nach alter Rechtslage möglicherweise statthaft gewesen wäre, auf eine Anfrage bei einem anderen Senat nach Änderung der Geschäftsverteilung ‑ entsprechend der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats ‑ zu verzichten, ist dies nach dem Wortlaut der Neuregelung in § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO ausgeschlossen.

Keine durchgreifenden Bedenken: Die vom vorlegenden Senat gegen die Beibehaltung der bisherigen Rspr. geäußerten Bedenken greifen nicht durch. § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO ist nicht mehrdeutig. Im Übrigen besteht die Gefahr einander widerstreitender Entscheidungen auch, wenn der bisher allgemein für eine Rechtsfrage zuständige Senat nur noch gelegentlich in die Lage kommen kann, über die Rechtsfrage zu entscheiden. Die Zuweisung eines Rechtsgebiets an einen bestimmten Senat überträgt diesem die Rechtsfortbildung hierfür nur in den Grenzen des § 11 FGO. Das Spannungsverhältnis, das zwischen Rechtsfortbildung und Einheitlichkeit der Rspr. bestehen kann, ist nach Maßgabe des § 11 FGO aufzulösen. Dass sich hieraus ein Vorrang der Einheitlichkeit der Rspr. gemäß den Voraussetzungen dieser Vorschrift ergibt, beruht auf einer gesetzgeberischen Entscheidung, die von der Rspr. zu beachten und auch im Fall des Übergangs einer "primären" Zuständigkeit angemessen ist. Die Überlegungen des vorlegenden Senats zu einer Abweichungsanfrage eines dritten Senats greifen schon deshalb nicht durch, weil die Voraussetzungen für einen Zuständigkeitsübergang in Bezug auf den anzufragenden Senat nach § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO nicht vorliegen. Für die Erwartung, dass ein Senat, der sich nur gelegentlich mit der Materie eines anderen Senats befassen müsse, in aller Regel der Rspr. dieses Senats folgen werde, besteht schließlich keine hinreichende Grundlage, wie auch der Ausgangsfall in diesem Verfahren zeigt.

Entscheidung der Vorlagefrage: Der GrS beantwortet die ihm vorgelegte Frage wie folgt: Ein Senat des BFH, der von einer Entscheidung eines anderen Senats abweichen will, hat auch dann bei diesem Senat nach § 11 Abs. 3 FGO anzufragen und für den Fall, dass dieser an seiner Rechtsauffassung festhält, den GrS anzurufen, wenn der erkennende Senat zwar nach dem Geschäftsverteilungsplan für die Rechtsfrage zuständig geworden ist, der andere Senat aber weiterhin mit der Rechtsfrage befasst werden kann.

Beraterhinweis: Die Entscheidung des GrS beantwortet endgültig die im Schrifttum streitig erörterte Frage der Anrufungspflicht in dem im Sachverhalt genannten Fall. Hiernach muss der GrS auch dann angerufen werden, wenn ein Senat, der nach dem geänderten Geschäftsverteilungsplan für eine bestimmte Rechtsfrage (hier Anerkennung von agB) zuständig geworden ist, von der bisherigen Rechtsauffassung eines anderen Senats abweichen will, der im Rahmen seiner nunmehrigen allgemeinen Zuständigkeit für Fragen der Anwendung des EStG auch Gelegenheit haben kann, über die streitige Rechtsfrage (hier agB) zu entscheiden, einer Abweichung von seiner früheren Rspr. aber nicht zustimmt.

RD a.D. Michael Marfels, Nordkirchen

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 26.02.2015 12:05

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