Otto Schmidt Verlag


Ist der definitive Wegfall des Verlustvortrags bei der Mindestbesteuerung verfassungswidrig?

Seit der Einführung der sog. Mindestbesteuerung ab 2004 mit dem „Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz“ vom 22.12.2003 ist der Verlustvortrag bei einem positiven Ergebnis über 1 Mio. € nur noch begrenzt mit 60 % des positiven Ergebnisses je Folgejahr möglich. Diese Begrenzung gilt für die Einkommensteuer gem. § 10d Abs. 2 EStG, bei der Körperschaftsteuer gem. § 8 Abs. 1 KStG i.V.m. § 10d Abs. 2 EStG und bei der Gewerbesteuer gem. § 10a Satz 1 GewStG. Grundsätzlich kann ein Verlust in unbeschränkter Höhe in den auf seine Entstehung folgenden Veranlagungszeiträumen vorgetragen und abgezogen werden, aber bei positivem Einkommen bzw. positivem Gewerbeertrag über 1 Mio. € bleibt ein steuerpflichtiger positiver Betrag übrig. Der Verlustabzug wird dadurch zeitlich gestreckt.

In einem entsprechenden Fall untersuchte der BFH, ob diese Neufassungen der entsprechenden gesetzlichen Regelungen gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Der in diesem Artikel geregelte Gleichheitsgrundsatz erfordert bei der Anwendung auf die direkten Steuern eine Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuersubjekts. Der BFH kommt zu dem Ergebnis, dass die zeitliche Streckung des Verlustausgleichs – am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG gemessen – verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist.

Besteht aber ein Sachzusammenhang zwischen der Entstehung des Verlusts und dem späteren Gewinn und kommt es danach zu einem endgültigen Wegfall der Verlustverrechnungsmöglichkeit – wie im hier behandelten Fall durch Liquidation einer Kapitalgesellschaft –, dann liegt in der Mindestbesteuerung nach Auffassung des BFH ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Dieser Verstoß kann auch nicht durch Billigkeitsmaßnahmen gem. §§ 163, 227 AO im Einzelfall korrigiert werden. Da der BFH die Verfassungswidrigkeit in seinen Entscheidungen nicht selbst beseitigen kann, musste er den Fall dem BVerfG zur Entscheidung vorlegen.

BFH v. 26.2.2014 – I R 59/12

Eine in 1992 gegründete B-GmbH sollte nach ihrem Gesellschaftszweck Dienstleistungen aller Art im Zusammenhang mit einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme erbringen. Hierzu gehörte auch der An- und Verkauf von Grundstücken, die Erarbeitung von Nutzungskonzepten für Entwicklungsgebiete inkl. deren Umsetzung.

Um diese Zielsetzungen zu erreichen, schloss die GmbH im Oktober 1992 eine Kooperationsvereinbarung mit der D-GmbH, die vom Land Berlin mit der angeführten städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme beauftragt worden war. Die Vereinbarung sah vor, dass die B-GmbH die für die Maßnahme erforderlichen Grundstücke erwerben und an Investoren weiterveräußern sollte. Aus den Gewinnen dieser Grundstücksgeschäfte sollte die Vergütung für die Leistungen der D-GmbH erwirtschaftet werden. Über die Durchführung der Kooperationsvereinbarung kam es in der Folgezeit zu erheblichen Differenzen und Rechtsstreitigkeiten zwischen den Partnern. Die B-GmbH schrieb daher eine Forderung an die D-GmbH aus den Grundstücksgeschäften i.H.v. rund 44,2 Mio. € im Jahresabschluss zum 31.12.2004 in voller Höhe ab. Im Folgejahr wurde am 28.7.2005 das Insolvenzverfahren über ihr Vermögen eröffnet. In diesem Verfahren traf die B-GmbH dann eine Vereinbarung mit der D-GmbH, aufgrund der zum 31.12.2006 eine Wertaufholung hinsichtlich der abgeschriebenen Forderung vorgenommen wurde.

In der Zeit bis zum 28.7.2005 war bei der Gesellschaft ein körperschaftsteuerlicher Verlust von rund 72,3 Mio. € entstanden. Für die Folgezeit wurde im Abwicklungszeitraum vom 28.7.2005 bis zum 31.7.2008 ein Gesamtbetrag der Einkünfte gem. § 11 Abs. 7 KStG i.H.v. 78,2 Mio. € vom FA festgestellt. Dagegen konnten gem. § 8 Abs. 1 KStG i.V.m. § 10d Abs. 2 EStG nur 47,3 Mio. € des Verlustvortrags verrechnet werden. Für die Gewerbesteuer wurde der um Dauerschuldzinsen erhöhte Gewerbebetrag auf die Jahre 2006 bis 2008 verteilt und die vorher angefallenen Gewerbeverluste ebenfalls mit den auf 60 % des Ertrags begrenzten Beträgen abgezogen. Die dagegen erhobene Klage hatte vor dem FG Berlin-Brandenburg keinen Erfolg.

Mindestbesteuerung im Normalfall verfassungsgemäß: Zunächst stellt der BFH fest, dass die Mindestbesteuerung im vorliegenden Fall sowohl bei der Körperschaftsteuerveranlagung für den Abwicklungszeitraum als auch bei der Festsetzung der Gewerbesteuer-Messbeträge 2006 bis 2008 zutreffend angewandt wurde. Im weiteren Verlauf der Rechtsfindung beurteilt der BFH dann die Grundkonzeption der Mindestbesteuerung mit der zeitlichen Streckung des Verlustabzugs als verfassungskonform. Das sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebende objektive Nettoprinzip wird mit der Mindestbesteuerung nicht verletzt, denn die Verlustverrechnung wird zwar durch § 10d Abs. 2 EStG zeitlich gestreckt, aber im Grundsatz nicht aufgehoben oder teilweise verhindert. Der auch bereits vom BVerfG in der Entscheidung vom 30.9.1998 (BvR 1818/91, BVerfGE 1999, 88) verlangte periodenübergreifende Verlustausgleich ist bei der Mindestbesteuerung weiterhin möglich. Im Übrigen hat das BVerfG bei seinen bisherigen Entscheidungen zum Verlustausgleich/-abzug Einschränkungen im Hinblick auf bestimmte Einkünfte oder auf einen begrenzten zeitlichen Rahmen für den Abzug als innerhalb des objektiven Nettoprinzips liegende gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit angesehen (BVerfG v. 8.3.1978 – 1 BvR 117/78, HFR 1978, 293; BVerfG v. 30.10.1980 – 1 BvR 785/80, HFR 1981, 181). Auch der BFH hat in seiner Rechtsprechung bei lediglich zeitlicher Streckung des Verlustabzugs keinen Zweifel an der verfassungsgemäßen gesetzlichen Gestaltungsfreiheit gelassen (BFH v. 22.8.2012 – I R 9/11, BStBl. II 2013, 512). Der I. Senat verweist dann in seinen Ausführungen auch auf die Literatur, in der in den Stellungnahmen zur Verfassungsmäßigkeit der Mindestbesteuerung der weitaus größte Teil die gesetzlichen Regelungen als im Einklang mit der Verfassung stehend beurteilt hat (Nachweise in Tz. 24 der Urteilsgründe). Es gibt aber auch Gegenstimmen hierzu und Veröffentlichungen, bei denen differenziert wird zwischen den normalen Auswirkungen einer zeitlichen Streckung und den Fällen des endgültigen Wegfalls aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen. Solche „Definitiveffekte“ werden vom BFH mit der Literatur und auch der Finanzverwaltung in der Liquidation von Kapitalgesellschaften, zeitlich begrenzt existierenden Projektgesellschaften und auch bei langfristigen Fertigungen gesehen. Dort kann die Grenze einer grundgesetzkonformen gesetzlichen Verlustabzugsbeschränkung überschritten worden sein. Für die bei „normalem“ Verlauf eines unternehmerischen Wirkens nur zeitliche Streckung des Verlustabzugs sind die Regelungen aber verfassungskonform.

Mindestbesteuerung bei innerem Sachzusammenhang zwischen Verlust und Gewinn: Für bestimmte Fälle der Verlustverrechnung ist nach Auffassung des BFH aber ein vollständiger Ausgleich zwischen Gewinnen und Verlusten erforderlich, damit die Verfassungsmäßigkeit der Mindestbesteuerung noch gewahrt wird. Im Streitfall bestand ein innerer Zusammenhang zwischen dem entstandenen Verlust und dem Gewinn. Der Verlust entstand im Wesentlichen aus der Teilwertabschreibung der Forderung. Der BFH sieht in diesen Fällen, in denen nur wegen der periodenbezogenen Besteuerungsmethode eine Steuerbelastung eintritt, eine grundrechtswidrige Substanzbesteuerung. Diese Besteuerung kann auch nicht mit der bei einer Gesetzesformulierung notwendigen Typisierung bzw. der generalisierenden Vereinfachung bei der Anwendung gerechtfertigt werden. Der Gesetzgeber hat zwar im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens durch die Anhebung des absoluten und relativen Betrags (1 Mio. € und 60% des Gewinns) die Zahl der Fälle deutlich verringert, in denen die zeitliche Streckung der Verlustverrechnung zum endgültigen Wegfall führen kann, aber es ist nicht versucht worden, eine sachliche Abgrenzung der Ursachen der Verluste bei der Mindestbesteuerung zu berücksichtigen. Die ohne Ausnahmen vorgesehenen definitiv entfallenden Verlustabzugsmöglichkeiten entsprechen nach Auffassung des BFH nicht dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Dieser Verstoß gegen das Grundgesetz ist nach Ansicht des BFH auch nicht zur Missbrauchsverhinderung oder bei der Gewerbesteuer aus Gründen der Haushaltskonsolidierung der Kommunen gerechtfertigt.

Billigkeitsregelungen in §§ 163, 227 AO kein Ersatz für Verfassungswidrigkeit der Mindestbesteuerung: Der I. Senat sieht auch keine ausreichende Möglichkeit zur Einhaltung der Verfassungsgemäßheit für die Mindestbesteuerung in den Anwendungen, die die Billigkeitsregelungen in §§ 163, 227 AO bieten. Die sachliche Billigkeit liegt dann vor, wenn eine Besteuerung zwar dem Wortlaut des Gesetzes entspricht, aber sie den Wertungen des Gesetzgebers widerspricht. Davon kann hier nicht die Rede sein, denn der Gesetzgeber kannte die Auswirkungen der beschlossenen Mindestbesteuerung bereits im Gesetzgebungsverfahren. Eine strukturelle Gesetzeskorrektur durch Billigkeitsmaßnahmen ist aber nicht zulässig (so auch die Literatur in den in Tz. 38 der Urteilsgründe genannten Fundstellen).
Erhalt der Vorschrift durch verfassungskonforme Auslegung: Die verfassungskonforme Auslegung einer Vorschrift kommt dann in Betracht, wenn mehrere Auslegungsmöglichkeiten gegeben sind und eine Auslegung normerhaltend möglich ist. Der BFH verweist aber für die Mindestbesteuerung darauf, dass hier eine entsprechende Auslegung mit dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers im Widerspruch stehen würde. Dies ist aber nach der Rechtsprechung des BVerfG zur Auslegung eines Gesetzestextes nicht zulässig (BVerfG v. 26.4.1994 – 1 BvR 1299/89, BVerfGE 90, 263). Da der Gesetzgeber bei der Einführung der Mindestbesteuerung keine Differenzierung nach der Art der Verlustentstehung vorgenommen hat, kann diese nicht im Wege der Auslegung für den vorliegenden Streitfall vorgenommen werden.

Vorlage im Urteilsfall entscheidungserheblich: Der I. Senat untersucht dann abschließend, ob dem BVerfG die Entscheidung über die Frage, ob die Regelung über die Mindestbesteuerung bei definitiv wegfallenden Verlustvorträgen gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, vorgelegt werden muss. Falls die in § 10d Abs. 2 EStG und § 10a Satz 2 GewStG geregelte Mindestbesteuerung entgegen der Annahme des BFH verfassungsgemäß ist, müsste die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden. Stimmt das BVerfG der Auffassung des BFH jedoch zu, müssten die festgesetzte Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuermessbeträge herabgesetzt werden. Die Entscheidung des BVerfG ist daher gem. § 80 BVerfGG zur Entscheidung über die Revision zwingend erforderlich.

Beraterhinweis: Es ist nicht absehbar, ob und gegebenenfalls für welche Fälle der Verlust- und Gewinnverknüpfung das BVerfG die Anwendung der Mindestbesteuerung einschränken wird. Es ist daher dringend zu empfehlen, Bescheide in allen Fällen offenzuhalten, bei denen die Mindestbesteuerung zu einem definitiven Wegfall des Verlustabzugs geführt hat. Für die Entscheidung über die Einlegung eines außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelf sollte der Grund für die Definitivbesteuerung sehr großzügig gesehen werden.

WP/StB Jürgen Dräger, Hamburg

Service: BFH v. 26.2.2014 – I R 59/12

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 12.09.2014 09:35

zurück zur vorherigen Seite