Otto Schmidt Verlag


Tatsächlicher Zugang eines zuzustellenden Dokuments bei Verstoß gegen zwingende Zustellungsvorschriften

Verstößt eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende Zustellungsvorschriften, weil der Zusteller entgegen § 180 Satz 3 ZPO auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung nicht vermerkt hat, ist das zuzustellende Dokument i.S.d. § 189 ZPO in dem Zeitpunkt dem Empfänger tatsächlich zugegangen, in dem er das Schriftstück in die Hand bekommt.

BFH v. 6.5.2014 – GrS 2/13

Das klageabweisende Urteil des FG gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid 2002 war den Prozessbevollmächtigten der Kläger, drei in einer Sozietät zusammengeschlossenen Rechtsanwälten, im Wege eines Zustellungsauftrags durch die Post zugestellt worden. In der vom Zusteller unterzeichneten Zustellungsurkunde war angegeben, dass der Umschlag nach dem vergeblichen Versuch der Übergabe in einen zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten eingelegt wurde. Als Tag der Zustellung wurde der 24.12.2008 (Mittwoch) ohne Angabe einer Uhrzeit in die Zustellungsurkunde eingetragen. Der Briefumschlag enthält im Feld „zugestellt am“ keine Eintragung.

Die Revisionsschrift der Kläger ging am Dienstag, den 27.1.2009, beim BFH ein. Nach einem telefonischen Hinweis des BFH hinsichtlich der Versäumnis der Revisionsfrist wurde vorgetragen, das Urteil sei den Prozessbevollmächtigten erst am 29.12.2008 (Montag) zugegangen, da aufgrund der Schließung der Kanzlei vom 24. bis 28.12.2008 die Sendung erst am 29.12.2008 im Kanzleibriefkasten vorgefunden worden sei. Dieses Datum sei auf dem Briefumschlag von der Kanzlei handschriftlich vermerkt. Auf dem Briefumschlag selbst fehle die Angabe des Tags der Zustellung durch den Zusteller. Für den Beginn der Revisionsfrist sei der Tag maßgeblich, an dem der Prozessbevollmächtigte das Urteil tatsächlich in die Hand bekommen habe, also der 29.12.2008, sodass die Revision rechtzeitig eingelegt worden sei.

Der zuständige VIII. Senat des BFH vertritt die Auffassung, das im Falle einer unwirksamen Zustellung (Fehlen des Zustellungsdatums auf dem Umschlag) das zuzustellende Schriftstück i.S.d. § 189 ZPO bereits in dem Zeitpunkt dem Empfänger tatsächlich zugegangen ist und deshalb gem. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB als zugestellt gilt, in dem nach dem gewöhnlichen Geschehensablauf mit einer Entnahme des Schriftstücks aus dem Briefkasten und der Kenntnisnahme gerechnet werden kann, auch wenn der Empfänger das Schriftstück erst später in die Hand bekommt. Die objektiv-rechtlichen Zwecke der Zustellungsvorschriften seien höher als der Schutz des Adressaten zu bewerten. Da der Einwurf in den Briefkasten am 24.12. erfolgt sei, konnte zumindest bis zum Mittag mit einer Kenntnisnahme von Geschäftspost gerechnet werden. Er legt daher dem Großen Senat (GrS) die Rechtsfrage vor, ob dieser sich der Auffassung des VIII. Senats anschließt.

Zulässigkeit der Vorlage: Die Vorlage des VIII. Senats ist gem. § 11 Abs. 2 FGO zulässig, da die Auffassung des vorlegenden Senats von derjenigen des VI. Senats des BFH (Beschluss v. 19.9.2007 – VI B 151/06, BFH/NV 2007, 2332) abweicht (Divergenz). Eine solche abweichende Entscheidung kann auch bei einem BFH-Beschluss vorliegen, wenn mit diesem eine Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen wird und die abschließende Entscheidung über die Rechtsfrage die Entscheidung trägt. Der VI. Senat hat entschieden, dass die Nichtzulassungsbeschwerde rechtzeitig eingelegt worden sei, da die Frist erst mit der tatsächlichen Empfangnahme des FG-Urteils beginne. Damit weicht der vorlegende VIII. Senat von der Entscheidung des VI. Senats ab, der an seiner Rechtsauffassung festhält. Die Vorlage ist weiterhin gem. § 11 Abs. 4 FGO zulässig, da der Anfragegrund auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage gestützt wird und die vorgelegte Rechtsfrage bereits Gegenstand von Entscheidungen mehrerer Senate war und in Entscheidungen jedes Senats entscheidungserheblich zu beantworten sein kann.

Entscheidungserheblichkeit der Vorlage: Die vorgelegte Rechtsfrage ist für die Entscheidung des VIII. Senats erheblich. Bei Verneinung der Vorlagefrage entsprechend der Rechtsauffassung des VI. Senats wäre die Revision der Kläger zulässig, denn der Zustellungsmangel wäre dann erst am 29.12.2008 dadurch geheilt worden, dass der Bevollmächtigte der Kläger die Ausfertigung des FG-Urteils „in den Händen hielt“. Die Revisionsfrist wäre bei Eingang der Revisionsschrift am 27.1.2009 noch nicht abgelaufen gewesen. In diesem Fall müsste der VIII. Senat durch Urteil über die Begründetheit der Revision entscheiden.

Rechtsgrundlagen: Ein FG-Urteil ist nach § 104 Abs. 1 FGO den Beteiligten von Amts wegen nach den Vorschriften der ZPO zuzustellen (§ 53 Abs. 2 FGO). Bei Zustellung durch die Post wird dieser das zuzustellende Schriftstück in einem verschlossenen Umschlag sowie ein vorbereitetes Formular einer Zustellungsurkunde übergeben (§ 176 Abs. 1 ZPO). Gem. § 177 ZPO kann das Schriftstück dem Empfänger an jedem Ort übergeben werden, an dem er angetroffen wird. Wird er in seiner Wohnung oder seinem Geschäftsraum nicht angetroffen und kann das Schriftstück auch nicht einer der in § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 ZPO genannten Personen übergeben werden, kann nach § 180 Satz 1 ZPO das Schriftstück u.a. in einen zur Wohnung oder Geschäftsraum gehörenden Briefkasten eingelegt werden. Damit gilt das Schriftstück als zugestellt (§ 180 Satz 2 ZPO). Nach § 180 Satz 3 ZPO vermerkt der Zusteller auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung. Zum Nachweis der Zustellung ist eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen Formular anzufertigen (§ 182 Abs. 1 Satz 1 ZPO), die u.a. die Bemerkung enthalten muss, dass der Tag der Zustellung auf dem Umschlag, der das zuzustellende Schriftstück enthält, vermerkt ist (§ 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO).

Heilung von Zustellungsmängeln: Zustellungsmängel werden unter den Voraussetzungen des § 189 ZPO geheilt. Hiernach gilt bei Zustellungsmängeln das Schriftstück in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument dem maßgeblichen Empfänger tatsächlich zugegangen ist.

Rechtsentwicklung: Der GrS stellt die Entwicklung der Normen über die Zustellung und die Heilung von Zustellungsmängeln dar.

Rechtsprechung und Schrifttum: Der GrS gibt alsdann die Entscheidungen von vier Senaten des BFH wieder, die sich mit der Auslegung des § 189 ZPO zum Zeitpunkt der Heilung eines Zustellungsmangels befassen. In diesen Urteilen wurde jeweils entschieden, dass die Revisionsfrist erst mit tatsächlichem Erhalt des FG-Urteils begonnen habe. Auch im Schrifttum wird im Anschluss an die Rspr. des BGH überwiegend die Auffassung vertreten, es müsse eine zuverlässige Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück vermittelt werden, was im Allgemeinen dann geschehen sei, wenn der Adressat der Zustellung trotz Verletzung der Zustellungsvorschriften das zuzustellende Schriftstück „in die Hand bekommen“ habe. Der bloße Eintritt in den Machtbereich genüge dagegen nicht.

Entscheidung des GrS: Ein Dokument ist i.S.d. § 189 ZPO in dem Zeitpunkt tatsächlich zugegangen, in dem der Adressat das Dokument „in den Händen hält“. Der GrS teilt nicht die Auffassung des vorlegenden Senats, es sei auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem eine Willenserklärung i.S.d. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB als zugegangen gilt.

Tatsächlicher Zugang: Der Gesetzgeber hat in § 189 ZPO das Adjektiv „tatsächlich“ verwendet. Dies spricht dafür, dass eine qualifizierte Form des Zugangs gemeint ist. Damit unterscheidet sich § 189 ZPO tatbestandlich von § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB, denn dort wird lediglich der Zugang der Willenserklärung gefordert. Dies spricht dagegen, die für den Zugang von Willenserklärungen geltenden Grundsätze bei der Auslegung des § 189 ZPO zu übernehmen. Aufgrund der Entstehungsgeschichte des § 189 ZPO muss der Begriff des „tatsächlichen“ Zugangs im Zusammenhang mit den anderen Regelungen zur Reform des Zustellungsrechts im Zustellungsreformgesetz ausgelegt werden. § 189 ZPO unterscheidet sich von der Vorgängerregelung in § 187 ZPO a.F. insbesondere dadurch, dass eine Heilung auch dann möglich ist, wenn durch die Zustellung eine Notfrist in Gang gesetzt werden soll. Sowohl in § 189 ZPO als auch in § 8 VwZG ist abweichend von den Vorgängerregelungen jetzt der Zeitpunkt entscheidend, in dem das Dokument dem Adressaten „tatsächlich zugegangen“ ist. Nach § 187 Satz 1 ZPO a.F. war auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das Schriftstück „zugegangen“ war, nach § 9 Abs. 1 VwZG a.F. auf den Zeitpunkt, in dem der Empfangsberechtigte das Dokument „nachweislich erhalten“ hatte. Beide Regelungen wurden in ständiger Rspr. dahingehend ausgelegt, dass der Empfänger das Schriftstück „in den Händen halten“ musste. Der Gesetzgeber wollte bei einer Ausweitung der Heilung auf fristauslösende Zustellungen von diesen Anforderungen an den Zugang nicht abweichen, vielmehr daran festhalten, dass eine Zustellung in ihrer Grundform durch körperliche Übergabe stattfindet (vgl. §§ 173, 177 ZPO).

Sachgemäße Auslegung des § 189 ZPO: Eine teleologische Auslegung des § 189 ZPO muss die mit der Reform des Zustellungsrechts verfolgten Ziele berücksichtigen. Die Ausweitung der Heilungsmöglichkeit auf fristauslösende Zustellungen ist aus der Sicht eines Zustellungsadressaten eine deutliche Verschärfung. Vor diesem Hintergrund ist die gleichzeitige Aufnahme des Merkmals des „tatsächlichen“ Zugangs als Begrenzung der Wirkungen einer Heilung von Zustellungsfehlern zu verstehen. Die unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften ausgeführte Zustellung soll eine Frist erst dann auslösen, wenn der Zustellungsempfänger „tatsächlich“ und nicht nur potenziell Kenntnis von dem Dokument nehmen kann. Das Merkmal „tatsächlich“ ist danach als das Gegenstück zu „fiktiv“ zu verstehen. Hierfür spricht auch das rechtsstaatliche Gebot einer folgerichtigen Ausgestaltung des Verfahrensrechts. Demjenigen, der Adressat einer hoheitlich betriebenen und unter Verletzung wesentlicher Formvorschriften ausgeführten Zustellung ist, dürfen keine Nachteile aus der Heilung im Vergleich zu einer ordnungsgemäßen Zustellung entstehen. Soweit die Heilung eine Frist auslöst, muss deshalb sichergestellt sein, dass die Frist auch in vollem Umfang genutzt werden kann. Eine an den Rechten des Adressaten orientierte Auslegung des § 189 ZPO ist insbesondere in Bezug auf die Heilung einer Ersatzzustellung nach § 180 ZPO geboten. Diese Form der Ersatzzustellung soll der Vereinfachung des Zustellungsverfahrens dienen und hat den Umfang der formellen Anforderungen an eine Zustellung im Vergleich zur früheren Rechtslage weiter abgesenkt. Während die Zustellung in ihrer ursprünglichen Gestalt als Übergabe des Dokuments an den Adressaten die Bestimmung eines sicheren Zeitpunkts der möglichen Kenntnisnahme gestattet, kann dieser Zeitpunkt im Fall der Ersatzzustellung nicht mehr konkret bestimmt werden. Die Zustellungsfiktion nach § 180 Satz 2 ZPO wird deswegen durch eine Fiktion auch des Zustellungszeitpunkts ergänzt, die an objektive Kriterien anknüpft. Je zuverlässiger diese Kriterien festgestellt werden können, umso eher kann angenommen werden, dass die Fiktion der Realität nahekommt.

Probleme der Ersatzzustellung: Mit der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten knüpft das Gesetz im Wesentlichen an Kriterien an, die nicht mit hoher Zuverlässigkeit festgestellt werden können, weil ihre Verwirklichung nicht beobachtet werden kann und auch keine Amtsträger tätig werden. Macht man die Fiktion des Zugangs von derartigen Kriterien abhängig, verliert die fiktive Bestimmung des Zugangszeitpunkts ihre Grundlage jedenfalls dann, wenn auch nur eines dieser Kriterien infolge eines Zustellungsfehlers entfällt. Dies bedeutet keine Besserstellung von Adressaten fehlerhafter Zustellungen gegenüber Adressaten ordnungsgemäß ausgeführter Zustellungen. Denn die Verwirklichung der Anknüpfungskriterien für die Fiktion liegt nicht im Einflussbereich des Adressaten. Vielmehr kann nur anhand des von Dritten (Zusteller) verwirklichten Anknüpfungskriteriums eine Zugangsfiktion begründet werden, nicht aber ohne dieses Kriterium. Werden bei Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten auf dem Umschlag (§ 180 Satz 3 ZPO) und auf der Zustellungsurkunde (§ 182 Abs. 2 Nr. 7 ZPO) nicht identische Datumsangaben angebracht, entfällt hiernach das Anknüpfungskriterium für den fiktiven Zeitpunkt der Zustellung. Der Zeitpunkt kann dann nur in Anlehnung an den Zeitpunkt der realen Kenntnisnahme bestimmt werden. Dieser wird sich häufig nicht sicher feststellen lassen, sodass im Zweifel auf den Zeitpunkt abzustellen ist, den der Adressat selbst als Zugangszeitpunkt angibt.

Kein Vorrang der Zwecke der Zustellungsnormen: Soweit der vorlegende Senat „objektiv-rechtlichen Zwecken der Zustellungsvorschriften“ Vorrang vor dem Schutz des Adressaten einräumt, folgt der GrS dem nicht. Objektiver Zustellungszweck soll danach sein, „den Zeitpunkt der Zustellung auch im Fall der Heilung einer zunächst fehlgeschlagenen Zustellung rechtssicher bestimmen zu können“. Diese Zweckbestimmung mag für den Fall der ordnungsgemäß ausgeführten Zustellung gelten. Bei einer fehlerhaften Zustellung wird dieses Ziel aber gerade verfehlt, sodass zu seiner Erreichung an sich eine erneute und nun ordnungsgemäße Zustellung erforderlich wäre. Wenn das Gesetz aus Vereinfachungsgründen eine Heilung von Zustellungsmängeln vorsieht, stellt es den Zweck der Zustellung, dem Empfänger die Kenntnis vom Inhalt eines Dokuments zu ermöglichen, in den Vordergrund. Die rechtssichere Bestimmung des Zeitpunkts der Zustellung tritt dahinter zurück. Keinen Vorrang können auch die Interessen des Zustellenden haben. Das Risiko einer misslungenen Zustellung hat derjenige zu tragen, der mit der Zustellung fristgebundene Rechtsfolgen auslösen will. Es ist nicht ersichtlich, dass die Vereinfachung des Zustellungsrechts Änderungen an dieser Risikoverteilung mit sich bringen sollte. Soweit in der Begründung des Gesetzentwurfs das Interesse der zustellenden Partei in den Vordergrund gerückt wird, betrifft dies nur den Zugang des Dokuments selbst, nicht aber den Zeitpunkt des Zugangs.

Beraterhinweis: Der GrS des BFH legt mit zutreffenden Gründen § 189 ZPO dahingehend aus, dass Zustellungsmängel nach den neuen Zustellungsvorschriften zwar geheilt werden können, diese Heilung aber erst mit dem tatsächlichen „in den Händen Halten“ des Schriftstücks durch den Empfänger eintritt, sodass eventuelle Fristen, wie z.B. die Revisionsfrist, erst in diesem Zeitpunkt beginnen. § 130 Abs. 1 BGB, wonach eine Willenserklärung bereits in dem Zeitpunkt als zugegangen gilt, in dem mit einer Kenntnisnahme im gewöhnlichen Geschäftsverkehr gerechnet werden kann, ist bei der Auslegung des § 189 ZPO nicht anwendbar, da diese Norm ausdrücklich vom „tatsächlichen“ Zugang spricht.

RD a.D. Michael Marfels, Nordkirchen
Service: BFH v. 6.5.2014 – GrS 2/13

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 25.06.2014 15:25

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