Otto Schmidt Verlag


Keine Entschädigung bei vorteilhafter Rechtsprechungsänderung

Hat der Kläger im Ausgangsverfahren ausschließlich wegen der überlangen Dauer dieses Verfahrens obsiegt, weil zu einem Zeitpunkt, in dem das Ausgangsverfahren bereits als verzögert anzusehen war, eine zugunsten des Klägers wirkende Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der für das Ausgangsverfahren maßgebenden Rechtsfrage eingetreten ist, hat der Kläger durch die überlange Dauer des Ausgangsverfahrens keinen „Nachteil“ erlitten, so dass er weder eine Geldentschädigung noch die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer beanspruchen kann.

BFH v. 20.11.2013 – X K 2/12

Der Kläger (K) begehrt eine Entschädigung wegen der nach seiner Ansicht überlangen finanzgerichtlichen Verfahrensdauer. K erzielte im Jahre 2004 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die von ihm in seiner Einkommensteuererklärung beantragte Berücksichtigung der Kosten für einen zivilgerichtlichen Rechtsstreit als außergewöhnliche Belastungen i.H.v. 2.381,36 € gem. § 33 Abs. 2 EStG (mit einer Steuerminderung von 169 €) lehnte das FA ab. Dagegen richtete sich die am 29.11.2005 beim FG eingegangene und am 13.12.2005 dem FA zugestellte Klage. Mit Beschluss vom 16.8.2010 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen. Der Einzelrichter wies die Klage durch Urteil vom 9.9.2010 gem. § 94a FGO ohne mündliche Verhandlung ab. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH spreche bei Zivilprozesskosten eine Vermutung gegen die Zwangsläufigkeit. Der Rechtsstreit habe keinen für K existentiell wichtigen Bereich betroffen. Auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hob der BFH das Urteil des FG auf und verwies die Sache an das FG zurück. K habe nur für den Fall der Stattgabe der Klage wegen der langen Verfahrensdauer die mündliche Verhandlung für entbehrlich erachtet. Die Entscheidung gem. § 94a FGO habe deshalb den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Im 2. Rechtsgang wies ein anderer Senat des FG durch den Einzelrichter die Klage in mündlicher Verhandlung vom 12.4.2011 erneut ab. Auf die erneute Beschwerde des K ließ der BFH die Revision zu. Nach Erledigung der Hauptsache durch Beschluss vom 6.2.2012 legte er die Kosten des gesamten Verfahrens dem FA auf. Am 24.5.2012 erhob K die vorliegende Entschädigungsklage wegen unangemessen langer Verfahrensdauer. Die Verfahrensdauer habe allein im ersten Rechtsgang vor dem FG mehr als vier Jahre und neun Kalendermonate betragen. Dies sei unangemessen. Er halte eine Entschädigung von 4.500 € für angemessen und erforderlich. Er stelle diese in das Ermessen des Gerichts. Sie sollte jedoch den Betrag von 4.200 € nicht unterschreiten.
Der BFH wies die Revision des Klägers als unbegründet zurück, da eine nach den §§ 198 ff. GVG entschädigungspflichtige Verfahrensverzögerung nicht feststellbar sei. Die Klage sei unbegründet. Der Kläger habe weder einen Anspruch auf Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer noch auf Entschädigung.
Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs: Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gem. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Nach § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG kann Entschädigung hierfür nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise gem. Abs. 4 ausreichend ist. Nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG ist Wiedergutmachung auf andere Weise insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, nach Satz 2 auch ohne Antrag. Nach § 198 Abs. 4 Satz 3 GVG kann sie in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden; ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Abs. 3 nicht erfüllt sind.
Notwendigkeit eines Nachteils: Der Anspruch auf Entschädigung und/oder Feststellung unangemessener Verfahrensdauer setzt nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG einen auf der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens beruhenden Nachteil voraus. Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG im Falle unangemessener Dauer vermutet. Diese Vermutung ist schon nach dem Wortlaut der genannten Vorschriften nicht unwiderleglich. Von einem wiedergutmachungspflichtigen Nachteil ist demnach nicht auszugehen, wenn sicher festgestellt werden kann, dass die - ggf. unangemessene - Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil geführt hat, sei es, dass kein Nachteil vorliegt, sei es, dass kein Kausalzusammenhang zwischen Verfahrensdauer und Nachteil vorliegt. Die Vermutung des auf der Verfahrensdauer beruhenden Nachteils ist insbesondere dann widerlegt, wenn (sicher) festgestellt werden kann, dass die Verfahrensdauer für den betreffenden Verfahrensbeteiligten - abgesehen von der Dauer selbst - ausschließlich von erheblichem Vorteil war.
Ausschließlich vorteilhafte Auswirkung der Verfahrensdauer: Die lange Verfahrensdauer hat K - abgesehen von der langen Ungewissheit über den Verfahrensausgang - ausschließlich gewichtige Vorteile verschafft, so dass die Nachteilsvermutung als widerlegt anzusehen ist. Der im Ergebnis für K positive Ausgang des gesamten Rechtsstreits, nämlich die Anerkennung der Zivilprozesskosten als außergewöhnliche Belastung, ist nur durch die lange Verfahrensdauer bei dem FG ermöglicht worden. Zwar hebt dieser Vorteil für sich genommen den Nachteil der langen Ungewissheit noch nicht auf; denn die Ungewissheit ist eine grundsätzlich vom Ausgang des jeweiligen Prozesses unabhängige Belastung. K aber hat den Vorteil, den Rechtsstreit gewonnen zu haben, ausschließlich deswegen erreicht und erreichen können, weil das Verfahren so lange gedauert hat. Im konkreten Fall wird der aus der überlangen Verfahrensdauer folgende Nachteil ausnahmsweise durch die dem K zugutekommende, erst während der überlangen Verfahrensdauer eingetretene, Rechtsprechungsänderung ausgeglichen und kompensiert.
Günstige Rechtsprechungsänderung des BFH: Bis 2011 war nach ständiger Rechtsprechung des BFH davon auszugehen, dass die Kosten eines Zivilprozesses grundsätzlich nicht zwangsläufig waren (BFH v. 27.8.2008 – III R 50/06, BFH/NV 2009, 553). Erst mit der Entscheidung des BFH vom 12.5.2011 (BFH v. 12.5.2011 – VI R 42/10, StBW 2011, 678) änderte dieser seine Rechtsprechung und erkannte Zivilprozesskosten als außergewöhnliche Belastungen i.S.v. § 33 EStG über die bisherigen Grundsätze hinaus auch dann an, wenn der Steuerpflichtige den Zivilprozess unter verständiger Würdigung des Für und Wider einschließlich des Kostenrisikos eingegangen war, mithin (nur) dann nicht, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung aus Sicht eines verständigen Dritten keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bot. Erst aufgrund dieser geänderten Rechtsprechungsgrundsätze war dem Begehren des K, und zwar erst im nachfolgenden Rechtsmittelverfahren im zweiten Rechtsgang, zu folgen.
Kein hypothetischer Kausalzusammenhang: Für die Frage, wie sich die lange Verfahrensdauer ausgewirkt hat, ist der tatsächliche und nicht ein auf einer Fiktion beruhender hypothetischer Kausalverlauf maßgebend (ebenso zur Haftung nach § 69 ff. AO, z.B. BFH v. 11.11.2008 – VII R 19/08, BStBl. II 2009, 342).
Beraterhinweis: Die Prüfung, ob die Verfahrensdauer zu einem Nachteil geführt hat, setzt eine Gesamtbewertung der Folgen voraus, die die Verfahrensdauer mit sich gebracht hat. Die der langen Verfahrensdauer immanente Ungewissheit über den Verfahrensausgang mit der ihr eigenen Belastung für den rechtsschutzsuchenden Bürger kann für sich allein nicht dazu führen, dass ungeachtet sonstiger Folgen der Verfahrensdauer stets von einem Nachteil von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG auszugehen wäre. Da der der überlangen Verfahrensdauer immanente Nachteil der langen Ungewissheit unter der Voraussetzung überlanger Verfahrensdauer naturgemäß ausnahmslos vorliegt, würde mit einer derartigen Schlussfolgerung die widerlegliche Nachteilsvermutung tatsächlich zu einer unwiderleglichen Vermutung, was der Konzeption des Gesetzes nicht entspricht.
Ob eine andere Beurteilung dann in Betracht kommen könnte, wenn die Verfahrensdauer in den Bereich der sog. absoluten Überlänge hineinragen würde, konnte der BFH im Streitfall offen lassen, da diese Grenze nicht erreicht war (dazu BFH v. 7.11. 2013 – X K 13/12, StBW 2014, 22).
Nach den Entscheidungen des BFH vom 7.11.2013 (BFH v. 7.11.2013 – X K 13/12, StBW 2014, 22) und vom 17.4.2013 (BFH v. 17.4.2013 – X K 3/12, StBW 2013, 508) hat der ausschließlich zuständige X. Senat des BFH nunmehr zum dritten Mal im Rahmen einer Sachentscheidung zu einer weiteren Fallgestaltung Stellung genommen. Auch diese Entscheidung verdeutlicht erneut, dass grundsätzlich eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des konkreten Falls erforderlich ist.
Durch das AmtshilfeRLUmsG vom 26.6.2013 (BGBl. I 2013, 2131) hat der Gesetzgeber in § 33 Abs. 2 EStG einen neuen Satz 4 eingefügt, durch den die bis zur Rechtsprechungsänderung des BFH bestehenden und in ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung angewandten Rechtsprechungsgrundsätze zur Anerkennung von Prozesskosten als außergewöhnliche Belastung nunmehr ausdrücklich gesetzlich festgeschrieben worden sind. Allerdings haben mehrere Finanzgerichte eine Anwendung mangels einer zeitlichen Übergangsvorschrift (vgl. Art. 31 des Gesetzes) erst ab dem VZ 2013 für anwendbar erklärt. Dies wird der BFH im Rahmen der Revisionsverfahren VI R 56/13 und VI R 62/13 noch zu klären haben. 
Richter am BFH a.D. Dieter Steinhauff, München

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 06.02.2014 16:01

zurück zur vorherigen Seite