Otto Schmidt Verlag


Kindergeld für verheiratete Kinder: Keine Anwendbarkeit der sog. Mangelfallrechtsprechung auf neue Rechtslage

Die Verheiratung eines volljährigen in Berufsausbildung befindlichen Kindes kann dessen Berücksichtigung seit Januar 2012 nicht mehr ausschließen. Da es ab diesem Zeitpunkt auf die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes nicht mehr ankommt, ist der sog. Mangelfallrechtsprechung die Grundlage entzogen (gegen DA-FamEStG 2013 Abschn. 31.2.2).

BFH v. 17.10.2013 – III R 22/13

Der Kläger (K) ist leiblicher Vater einer 1991 geborenen Tochter, die nach dem Abschluss ihrer Schulausbildung am 1.10.2010 eine dreijährige Ausbildung begann, für die sie eine Ausbildungsvergütung bezog. Die Tochter heiratete im April 2011. Ihr Ehemann befindet sich seit September 2011 in einem Berufsausbildungsverhältnis und erhält ebenfalls eine Ausbildungsvergütung. K leistete seiner Tochter, die für 2012 (Streitjahr) einen Abzweigungsantrag gestellt hat, keinen Unterhalt. Seinen Kindergeldantrag lehnte die Familienkasse ab und wies den fristgemäß eingelegten Einspruch als unbegründet zurück, weil die Tochter sich mit ihrem eigenen Einkommen und dem Unterhaltsbeitrag ihres Ehemannes selbst unterhalten könne. Nach der Berechnung der Familienkasse hatte die Tochter Einkünfte von mehr als 8.300 € erzielt. Mit seiner Klage hatte K Erfolg. Das FG hat entschieden, dass für ein volljähriges verheiratetes Kind, das einer erstmaligen Berufsausübung nachgeht, in 2012 ein Kindergeldanspruch unabhängig von den Grenzbetragsregelungen über eigene Einkünfte und Bezüge und solche des Ehegatten bestehe. Die Familienkasse begründet ihre Revision mit der Verletzung materiellen Rechts.
Die Revision ist unbegründet und zurückzuweisen. Das FG hat zutreffend entschieden, dass die Tochter zu berücksichtigen ist.
Verheiratung steht Berücksichtigung nicht entgegen: Die Verheiratung des Kindes hindert den Anspruch auf Kindergeld nach dem Wortlaut des § 32 Abs. 4 EStG n.F. nicht; einen entsprechenden Ausschlusstatbestand enthält die Vorschrift nicht. Nach langjähriger Rechtsprechung des BFH bestand für ein verheiratetes Kind jedoch grundsätzlich kein Anspruch auf Kindergeld. Dies beruhte auf der Annahme, dass der Kindergeldanspruch für über 18 Jahre alte Kinder eine typische Unterhaltssituation seitens der Eltern voraussetzt, an der es fehlt, wenn das Kind verheiratet ist oder während einer Übergangs- oder Wartezeit einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgeht. Der Anspruch blieb jedoch erhalten, wenn bei einem verheirateten Kind - wie z.B. bei einer Studentenehe - die Einkünfte des Ehepartners für den vollständigen Unterhalt des Kindes nicht ausreichten und das Kind ebenfalls nicht über ausreichende eigene Mittel für seinen Unterhalt verfügte - sog. Mangelfall - so dass die Eltern weiterhin für das Kind aufkommen mussten.
Änderung der Rechtsprechung in 2010: Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der "typischen Unterhaltssituation" wurde vom BFH mit Urteil vom 17.6.2010 (BFH v. 17.6.2010 - III R 34/09, StBW 2010, 771) aufgegeben. Seit der Rechtsprechungsänderung ist zunächst der Berücksichtigungstatbestand zu prüfen. Anschließend war - für die Zurechnung von Kindern bis Ende 2011 - zu ermitteln, ob die Berücksichtigung wegen Überschreitung des Grenzbetrags (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.) ausgeschlossen war.
Typische Unterhaltssituation nicht erforderlich: Das Erfordernis einer typischen Unterhaltssituation ist seit dem BFH-Urteil vom 17.6.2010 (a.a.O.) vollständig entfallen, und nicht nur - wie die Familienkasse meint - für die Fallgruppe der vollzeitbeschäftigten Kinder. Der BFH hat daher auch wiederholt in seinen die Vollzeiterwerbstätigkeit von Kindern betreffenden Urteilen ausgesprochen, dass es unerheblich sei, aus welchen Gründen es an einer typischen Unterhaltssituation der Eltern fehlt.
Bedenken gegen die Auffassung der Familienkasse: Die von der Familienkasse befürwortete Fortführung einer Einkünfte- und Bezügegrenze, die sich zwecks Prüfung eines Mangelfalls allein auf verheiratete Kinder beschränkt, würde der mit der Abschaffung der Grenzbetragsregelung bei volljährigen Kindern vom Gesetzgeber bezweckten Entlastung der Eltern und der Verwaltung von der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge der Kinder widersprechen. Sie wäre zudem im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG bedenklich, weil die Eltern verheirateter Kinder dadurch gegenüber Eltern, die ihren Kindern typischerweise ebenfalls nicht zum Unterhalt verpflichtet sind, benachteiligt würden.
Beraterhinweis: Zur Frage der Kindergeldgewährung für volljährige verheiratete Kinder in Ausbildung sind noch eine Fülle von Verfahren beim BFH anhängig. All diesen Verfahren ist gemeinsam, dass die Vorinstanzen die nunmehr vom BFH bestätigte positive Sichtweise vertreten haben. Beispielhaft wird auf folgende Entscheidungen verwiesen, bei denen in allen Fällen die Revisionen anhängig sind: FG Schleswig Holstein, Urteil vom 25.7.2013 (FG Schleswig Holstein v. 25.7.2013 - 1 K 16/13, Az. des BFH: VI R 60/13), FG Niedersachsen, Urteil vom 22.8.2013 (FG Niedersachsen v. 22.8.2013 - 6 K 187/13, Az. des BFH: XI R 39/13), FG München, Urteil vom 20.2.2013 (FG München v. 20.2.2013 - 9 K 3405/12, Az. des BFH: III R 33/13). Aus dieser Aufzählung geht hervor, dass sich auch der VI. und der XI. Senat des BFH noch mit dieser Frage beschäftigen müssen.
Bisher ruhende Verfahren können nach Veröffentlichung der vorstehenden Entscheidung im BStBl. durch Abhilfe erledigt werden.
Aber auch in gleichgelagerten Fällen, in denen die Gewährung des Kindergeldes nach der bisherigen Auffassung der Familienkasse abgelehnt worden ist, ist noch nicht alles verloren. Wurde der Anspruch auf Kindergeld bestandskräftig abgelehnt, erstreckt sich die Bindungswirkung des Ablehnungsbescheids auf die Zeit bis zum Monat der Bekanntgabe des Aufhebungs- oder Ablehnungsbescheids. Das bedeutet im Umkehrschluss: Für die Zeit nach der Bekanntgabe des Ablehnungsbescheids kann (innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist) erneut einen Antrag auf Kindergeld gestellt werden.
StB Dipl.-Finw. (FH) Georg Schmitt, Limburg

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 23.01.2014 13:06

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