Otto Schmidt Verlag


Vorläufiger Rechtsschutz wegen Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 19 Abs. 1 ErbStG ab 2009

Die Vollziehung eines auf § 19 Abs. 1 ErbStG ab 2009 beruhenden Erbschaftsteuerbescheids ist wegen des beim BVerfG anhängigen Normenkontrollverfahrens 1 BvL 21/12 auf Antrag des Steuerpflichtigen auszusetzen oder aufzuheben, wenn ein berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht. Dieses liegt jedenfalls vor, wenn er mangels des Erwerbs liquider Mittel zur Entrichtung der festgesetzten Erbschaftsteuer eigenes Vermögen einsetzen oder die erworbenen Vermögensgegenstände veräußern oder belasten muss. An der Rechtsprechung, nach der eine Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung nicht zu gewähren ist, wenn zu erwarten ist, dass das BVerfG lediglich die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG aussprechen und dem Gesetzgeber eine Nachbesserungspflicht für die Zukunft aufgeben wird, hält der Senat nicht mehr fest.

BFH v. 21.11.2013 - II B 46/13

Die Antragstellerin A ist die geschiedene Ehefrau des im September 2011 verstorbenen Erblassers (E). Durch Vermächtnis des E erhält sie auf Lebenszeit eine monatliche Rente von 2.700 €. Das FA setzte für den Kapitalwert der Rente (Jahreswert 32.400 € x Vervielfältiger 10,556 = 342.015 €) Erbschaftsteuer i.H.v. 71.000 € fest, die A entrichtete. Mit dem Einspruch machte sie im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des BFH und das damit beim BVerfG anhängige Verfahren 1 BvL 21/12 die Verfassungswidrigkeit des ErbStRG geltend. Das FA und das FG lehnten die von A beantragte Aussetzung der Vollziehung (AdV) ab, da ihr Aussetzungsinteresse nicht die öffentlichen Interessen am ordnungsgemäßen Gesetzesvollzug und an einer geordneten Haushaltsführung überwiege. A könne etwaige finanzielle Härten durch die Wahl der Jahresversteuerung gem. § 23 ErbStG abmildern. Die Gewährung einer Aufhebung der Vollziehung käme dagegen einem einstweiligen Außerkraftsetzen des ErbStG gleich.

Der BFH gab der Beschwerde der A statt und hob die Vollziehung des angefochtenen Erbschaftsteuerbescheids auf, da ernstliche Zweifel i.S.v. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Erbschaftsteuerbescheids bestehen und das Interesse der A an der Aufhebung der Vollziehung überwiegt.

Voraussetzungen der AdV: Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO hat das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Diese sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheids neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen bewirken. Im Falle eines bereits vollzogenen Verwaltungsakts ist die Vollziehung wieder aufzuheben (§ 69 Abs. 3 Satz 3 FGO).

Ernsthafte Zweifel bei Normenkontrollverfahren: Im Streitfall bestehen ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Tarifvorschrift des § 19 Abs. 1 ErbStG, was sich aus dem Vorlagebeschluss des BFH und dem beim BVerfG anhängigen Normenkontrollverfahren im Hinblick auf die ggf. gleichheitswidrigen Begünstigen der §§ 13a und 13b ErbStG ergibt.

Vorrangiges Interesse der Antragstellerin? Das Interesse der A an der Aufhebung der Vollziehung ist gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des ErbStG vorrangig. Nach ständiger Rechtsprechung setzt eine Aufhebung der Vollziehung, die mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen Steuerbescheid zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift begründet wird, voraus, dass nach den Umständen des Einzelfalls ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht, dem Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt. Das BVerfG hat dieser Rechtsprechung im Grundsatz zugestimmt.

Abwägung der beiderseitigen Interessen: Bei der Prüfung, ob ein berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen an der Aussetzung bzw. der Aufhebung der Vollziehung vorliegt, ist sein individuelle Interesse mit den gegen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung auf den Gesetzesvollzug und das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung an.

Vorrang des individuellen Interesses bei Zweifeln des BFH an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm: Allerdings hat der BFH in Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen, in verschiedenen Fallgruppen dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen den Vorrang vor dem öffentlichen Interesse eingeräumt. Dazu zählt auch der Fall, dass der BFH die vom Antragsteller als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem BVerfG gem. Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hat. Bis zur Entscheidung des BVerfG ist zwar ungewiss, ob dieses die Vorschrift als verfassungswidrig beurteilen und im Fall einer Verfassungswidrigkeit für nichtig oder (nur) für mit dem GG unvereinbar erklären wird und welche Rechtsfolge es hieraus ziehen wird. Jedoch hat der BFH vorläufigen Rechtsschutz auf der Basis seiner, der Vorlage zugrunde liegenden Rechtsauffassung zu gewähren. Eine Einschränkung des vorläufigen Rechtsschutzes bei Verfassungsverstößen, von denen das Gericht überzeugt ist, gegenüber dem bei sonstigen Rechtsverstößen zu gewährenden vorläufigen Rechtsschutz ist dem rechtsuchenden Steuerpflichtigen im Hinblick auf seinen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht zuzumuten. Mit dem Begehren nach vorläufigem Rechtsschutz muss der Steuerpflichtige auch in Kauf nehmen, dass bei einer Erfolglosigkeit des Einspruchs oder der Klage gegen den Steuerbescheid Aussetzungszinsen anfallen.

Interessenabwägung bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an einer Tarifnorm: Ist - wie bei der Erbschaftsteuer - die dem BVerfG zur Prüfung vorgelegte Vorschrift allerdings eine Tarifnorm, muss im Rahmen der Interessensabwägung auch berücksichtigt werden, dass in diesem Fall die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes praktisch zu einer einstweiligen Nichterhebung der gesamten Steuer führen kann. Die Kompetenz, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, steht aber nach § 32 Abs. 1 BVerfGG allein dem BVerfG zu, das von dieser Möglichkeit nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Gründe Gebrauch machen darf. Dennoch hat ein Steuerpflichtiger auch in einem solchen Fall Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Nur in Ausnahmefällen können überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen.

Berechtigtes Interesse nur bei Fehlen liquider Mittel: Nachdem zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 19 Abs. 1 ErbStG i.V.m. §§ 13a und 13b ErbStG aufgrund des Vorlagebeschlusses des BFH ein Normenkontrollverfahren beim BVerfG anhängig ist, ist die Vollziehung eines auf § 19 Abs. 1 ErbStG beruhenden Erbschaftsteuerbescheids auf Antrag auszusetzen oder aufzuheben, wenn ein berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht. Dieses liegt jedenfalls vor, wenn er mangels des Erwerbs liquider Mittel (wie z.B. Bargeld, Bankguthaben, mit dem Ableben des Erblassers fällige Versicherungsforderungen) zur Entrichtung der festgesetzten Erbschaftsteuer eigenes Vermögen einsetzen oder die erworbenen Vermögensgegenstände veräußern oder belasten muss. In diesen Fällen kann der Erwerber die Erbschaftsteuer nicht bzw. nicht ohne weitere, ggf. auch verlustbringende Dispositionen aus dem Erwerb begleichen. Es ist ihm hier deshalb nicht zuzumuten, die Erbschaftsteuer vorläufig zu entrichten. Wegen seines vorrangigen Interesses steht der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht entgegen, dass das ErbStG als formell zustande gekommenes Gesetz bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des BVerfG Geltung beansprucht und von den Behörden und Gerichten anzuwenden ist. Gehören dagegen zu dem der Erbschaftsteuer unterliegenden Erwerb auch verfügbare Zahlungsmittel, die zur Entrichtung der Erbschaftsteuer eingesetzt werden können, fehlt regelmäßig ein vorrangiges Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Durch die Begleichung der Erbschaftsteuer vermindern sich lediglich die ihm mit dem Erwerb zugeflossenen Zahlungsmittel, so dass ihm die vorläufige Zahlung der Erbschaftsteuer zuzumuten ist.

Vorläufiger Rechtsschutz auch bei zu erwartender Feststellung der Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG: Soweit der BFH bisher vorläufigen Rechtsschutz versagt hat, wenn zu erwarten ist, dass das BVerfG lediglich die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG aussprechen und dem Gesetzgeber eine Nachbesserungspflicht für die Zukunft aufgeben wird, wird daran nicht mehr festgehalten. Es ist nicht gerechtfertigt, aufgrund einer Prognose über die Entscheidung des BVerfG vorläufigen Rechtsschutz generell auszuschließen. Ist ein qualifiziertes Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorhanden, muss es im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG auch effektiv durchsetzbar sein und darf nicht deshalb leer laufen, weil das BVerfG möglicherweise in einem Normenkontrollverfahren eine Weitergeltung verfassungswidriger Normen anordnet. Aus diesem Grund ist auch im Streitfall eine Aufhebung der Vollziehung unabhängig davon zu gewähren, ob das BVerfG für den Fall, dass es zu der Überzeugung gelangt, § 19 Abs. 1 ErbStG sei mit dem GG unvereinbar, die Norm für nichtig erklärt oder wiederum eine zeitlich beschränkte Weitergeltung anordnet.

Beraterhinweis: Der BFH stellt klar, dass in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des BFH eine Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung bei ernsthaften Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer Tarifnorm zu gewähren ist, da in diesen Fällen das individuelle Interesse des Steuerpflichtigen gegenüber dem öffentlichen Interesse vorrangig ist, wenn die Steuer in Erbfällen nicht aus dem geerbten Vermögen entrichtet werden kann. Ernsthafte Zweifel bestehen vor allem dann, wenn die Verfassungsmäßigkeit der Tarifnorm Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens beim BVerfG aufgrund eines gerichtlichen Vorlagebeschlusses ist.

RD a.D. Michael Marfels, Nordkirchen

Service: BFH v. 21.11.2013 - II B 46/13

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.12.2013 15:01

zurück zur vorherigen Seite