Otto Schmidt Verlag


Unangemessenene Dauer eines finanzgerichtlichen Klageverfahrens

Die Dauer eines Gerichtsverfahrens ist nur dann „unangemessen“ i.S.d. § 198 GVG, wenn eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen feststellbar ist. Die gem. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG im Vordergrund stehende Einzelfallbetrachtung schließt es aus, konkrete Fristen für die Gesamtdauer eines Verfahrens zu bezeichnen, bei deren Überschreitung die Verfahrensdauer als unangemessen anzusehen ist. Allerdings spricht bei einem finanzgerichtlichen Klageverfahren, das im Vergleich zu dem bei derartigen Verfahren typischen Ablauf keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, eine Vermutung dafür, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene Phase der gerichtlichen Aktivität nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht das Verfahren unbearbeitet lässt. Diese Angemessenheitsvermutung steht stets unter dem Vorbehalt der Betrachtung der besonderen Umstände des Einzelfalls. Sie gilt insbesondere nicht, wenn ein Verfahrensbeteiligter das Gericht rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Gründe hinweist, die für eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens sprechen. Unabhängig davon verdichtet sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen. In einem Verfahren, das im Zeitpunkt des Inkrafttretens des ÜberlVfRSchG (3.12.2011) bereits verzögert war, gilt eine Verzögerungsrüge als unverzüglich nach Inkrafttreten dieses Gesetzes erhoben und wahrt damit gem. Art. 23 Satz 2 und 3 ÜberlVfRSchG Entschädigungsansprüche auch für die Zeit vor Inkrafttreten des Gesetzes, wenn sie spätestens drei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes beim Ausgangsgericht eingeht.

BFH v. 7.11.2013 – X K 13/12

Der Kläger (K) begehrt gem. § 198 GVG Entschädigung wegen der von ihm als unangemessen angesehenen Dauer eines vom 20.2.2004 (Klageeingang) bis zum 8.11.2012 (Kostenbeschluss nach Erledigung der Hauptsache) vor dem FG Baden-Württemberg anhängigen Klageverfahrens. Die Ehefrau E des in Deutschland wohnhaften K verzog mit den drei gemeinsamen Kindern im Jahr 2000 nach Nordirland. Die Familienkasse lehnte die Weitergewährung von Kindergeld im Jahr 2001 zunächst ab. Während des Einspruchsverfahrens erließ sie Teilabhilfebescheide, in denen sie das Kindergeld jedoch um angenommene kindergeldähnliche Leistungen, die E nach Auffassung der Familienkasse im Vereinigten Königreich zustanden, kürzte. Im August 2010 erhielt die Familienkasse nach vielfältigsten Bemühungen eine Mitteilung der zuständigen Behörde in Nordirland, wonach ein erstmals im März 2010 gestellter Antrag der E abgelehnt worden sei. Die Familienkasse ließ diese Mitteilung aber unbearbeitet.

Im Dezember 2011 reichte schließlich K die Bescheinigung der Behörde in Nordirland beim FG ein, wonach keine Familienleistungen bezogen würden. Mit Schriftsatz vom Februar 2012 verlangte K „eine klare Richtungsvorgabe gegenüber dem Beklagten“ unter Hinweis auf die Entscheidung des EGMR vom 2.9.2010 (EGMR v. 2.9.2010 – 46344/06, Rumpf, NJW 2010, 3355). Im März 2012 erhob er schließlich ausdrücklich eine Verzögerungsrüge und kündigte die Erhebung einer Entschädigungsklage beim BFH an. Die Familienkasse half schließlich dem Klagebegehren in vollem Umfang ab und gewährte zusätzlich außerhalb des Klageverfahrens auch für die späteren Anspruchszeiträume (März 2004 bis April 2010) – ungekürzt - Kindergeld. Nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Hauptsache wurden die Kosten des Verfahrens der Familienkasse auferlegt. Mit der Entschädigungsklage begehrt K für einen Zeitraum von 68 Monaten eine Entschädigung für Nichtvermögensnachteile i.H.v. 7.200 € sowie den Ersatz für Überziehungszinsen i.H.v. 14.985,16 €.

Der BFH entschied gem. § 99 Abs. 1 FGO durch Zwischenurteil vorab über den Grund des Entschädigungsanspruchs und behielt die Entscheidung über die Höhe der geltend gemachten Entschädigung für materielle Nachteile (Überziehungszinsen) wegen notwendiger weiterer Ermittlungen dem Endurteil vor. Die Dauer des Ausgangsverfahrens sei unangemessen gewesen. Allerdings betreffe die Verzögerung nur einen Zeitraum von 43 Monaten. Die erforderliche Verzögerungsrüge sei noch „unverzüglich“ nach Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG erhoben worden.

Zulässigkeit der Entschädigungsklage: Die Erhebung und Rechtzeitigkeit einer Verzögerungsrüge betrifft nicht die Zulässigkeit sondern die Begründetheit der Entschädigungsklage. Die Verzögerungsrüge ist nur materielle Voraussetzung des Anspruchs auf Geldentschädigung.

Keine besonderen Anforderungen für die Verzögerungsrüge: § 198 Abs. 3 GVG stellt keine besonderen Anforderungen an die Form oder den Mindestinhalt einer Verzögerungsrüge. Sie braucht nicht begründet zu werden. Vielmehr genügt ein schlichter Hinweis auf die bisherige Verfahrensdauer. Es handelt sich auch nicht um eine Prozesshandlung im engeren Sinne, weil sie nicht unmittelbar auf das im Ausgangsverfahren bestehende Prozessrechtsverhältnis rechtsgestaltend einwirkt. Deshalb gelten die für Prozesshandlungen bestehenden Einschränkungen hinsichtlich Klarheit, Eindeutigkeit und Bedingungsfeindlichkeit nicht.

Auslegung als Verzögerungsrüge: Das Schreiben vom Februar 2012 war insbesondere wegen des Hinweises auf die Rechtsprechung des EGMR als Verzögerungsrüge auszulegen.

Unverzügliche Erhebung der Verzögerungsrüge nach Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG: War ein Verfahren beim Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG (3.12.2011) bereits verzögert, musste die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden (Art. 23 Satz 1 bis 3 ÜberlVfRSchG). Bei der gebotenen normspezifischen Auslegung des Merkmals „unverzüglich“ ist die Einhaltung einer Frist von drei Monaten in Anlehnung an Art. 35 Abs. 1 EMRK notwendig, aber auch ausreichend.

Angemessenheit der Verfahrensdauer: Nach § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Um dem Konflikt zwischen einer Überbeschleunigung von Verfahren einerseits und der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes andererseits Rechnung zu tragen, darf für die Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer die zeitliche Grenze nicht zu eng gezogen werden. Vielmehr ist eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen notwendig. Dem Ausgangsgericht ist ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens einzuräumen.

Primäre Einzelfallbetrachtung: Entsprechend dem Wortlaut des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG steht die Einzelfallbetrachtung im Vordergrund. Damit ist die Bezeichnung konkreter Fristen, innerhalb derer ein Verfahren im Regelfall abschließend erledigt sein sollte oder bei deren Überschreitung eine „absolute überlange Verfahrensdauer“ anzunehmen sein soll, die ohne weitere Einzelfallbetrachtung zur Zuerkennung einer Entschädigung führen soll, ausgeschlossen. Im Übrigen wird die Frage, ob eine solche zeitliche Konkretisierung stets ausgeschlossen ist oder für bestimmte Fallgruppen eine Erleichterung der rechtlichen Beurteilung ermöglicht werden kann, in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes zu § 198 GVG nicht einheitlich beurteilt.

Keine Unangemessenheit für Zeiten einer Verfahrensruhe: Die Zeit eines einvernehmlichen förmlichen Ruhens des Verfahrens kann grundsätzlich nicht als unangemessen im Hinblick auf die Gesamtverfahrensdauer angesehen werden, da jeder Beteiligte den Eintritt des Ruhens durch Versagung seiner erforderlichen Zustimmung verhindern kann. Die Wirkung eines Ruhensbeschlusses endet von selbst, sobald das in diesem Beschluss genannte Ereignis eintritt.

Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter: Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter ist gem. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG (nur) eines von mehreren Merkmalen für die Bewertung und Gewichtung der Umstände des Einzelfalls. Soweit das FG das Verhalten von – insbesondere ausländischen Behörden – nicht beeinflussen kann, ist ihm dieses Verhalten nicht unmittelbar zuzurechnen.

Beraterhinweis: Der BFH (BFH v. 17.4.2013 – X K 3/12, StBW 2013, 508) hatte sich erstmals zu einigen verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Fragen bei der Auslegung und Anwendung des § 198 GVG i.V.m. § 155 Satz 2 FGO geäußert. Er musste sich allerdings im Hinblick auf die Besonderheit des Ausgangsfalls, in dem der Kläger eine unschlüssige Klage erhoben hatte, noch nicht abschließend festlegen.

Mit der Besprechungsentscheidung hat der BFH nunmehr verbindliche Maßstäbe sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht entwickelt und insbesondere auch das Merkmal der „unverzüglichen Erhebung der Verzögerungsrüge“ für die Übergangsfälle nach Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG mit der normspezifisch bestimmten Dreimonatsfrist in begrüßenswerter Weise zugunsten der Rechtsschutzsuchenden geklärt. Zu begrüßen ist auch die Klarstellung, dass an die Erhebung der Verzögerungsrüge keine derart strengen formellen Anforderungen zu stellen sind für normale Prozesshandlungen bestehen. Eine mögliche Auslegung als Verzögerungsrüge entspricht überdies dem verfassungsrechtlichen Gebot einer rechtsschutzgewährenden Auslegung. Zutreffend verneint der BFH die Möglichkeit, abstrakte und generelle zeitliche Vorgaben für das Merkmal der unangemessenen Verfahrensdauer vorzugeben und hält stattdessen entsprechend den gesetzlichen Vorgaben verpflichtend an einer Einzelfallbetrachtung fest. Ebenso ist der Aussage zuzustimmen, dass erst bei einer deutlichen Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen die Verfahrensdauer als unangemessen beurteilt werden kann. Der verfassungsrechtliche Anspruch auf Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes schließt einen „sog. kurzen Prozess“ aus. Vor allem muss wegen der erheblichen Unterschiede in der Struktur und der Schwierigkeit der einzelnen Verfahren den Gerichten ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung des Verfahrens eingeräumt werden. Angesichts der erkennbar sorgfältigen Abwägung aller Umstände durch den BFH ist kaum zu befürchten, dass dadurch dem Anliegen der Rechtsschutzsuchenden nach zeitnahem Rechtsschutz nicht mehr ausreichend Rechnung getragen wird. Schließlich ist zu beachten, dass für Entschädigungsklagen beim BFH Vertretungszwang besteht (BFH v. 6.2.2013 – X K 11/12, AO-StB 2013, 207).

Richter am BFH a.D. Dieter Steinhauff, München

Service: BFH v. 7.11.2013 – X K 13/12

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.12.2013 14:40

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