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Tatsächlicher Zugang eines zuzustellenden Schriftstücks bei Verstoß gegen zwingende Zustellungsvorschriften

Dem Großen Senat des BFH wird folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Ist im Fall einer zulässigen Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten, die gegen zwingende Zustellungsvorschriften verstößt, weil der Zusteller entgegen § 180 Satz 3 ZPO auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung nicht vermerkt hat, das zuzustellende Schriftstück i.S.v. § 189 ZPO bereits in dem Zeitpunkt dem Empfänger tatsächlich zugegangen und gilt deshalb als zugestellt, in dem nach dem gewöhnlichen Geschehensablauf mit einer Entnahme des Schriftstücks aus dem Briefkasten und der Kenntnisnahme gerechnet werden kann, auch wenn der Empfänger das Schriftstück erst später in die Hand bekommt?

BFH v. 7.2.2013 – VIII R 2/09

Das klageabweisende FG-Urteil in einer Einkommensteuer-Sache ist dem Prozessvertreter (P) des Klägers (K) durch PZU zugestellt worden, auf der als Tag der Zustellung Mittwoch, der 24.12.2008, nicht aber die Uhrzeit der Zustellung vermerkt ist. Die Revision des K ging beim BFH am Dienstag, den 27.1.2009 ein. Der Wiedereinsetzungsantrag wurde damit begründet, das Urteil sei dem P erst am 29.12.2008 zugegangen. Die Kanzlei sei vom 24. bis 28.12.2008 nicht besetzt gewesen. P habe die Sendung erst am 29.12.2008 im Kanzleibriefkasten vorgefunden. Auf dem Briefumschlag, in dem sich das Urteil befunden habe, fehle die Angabe des Tags der Zustellung. Nach der Beweisaufnahme durch den BFH ist das Urteil am Vormittag des 24.12.2008 in den Briefkasten des P geworfen worden.

Der BFH hat die im Beschlusstenor genannte Rechtsfrage dem Großen Senat zur Entscheidung vorgelegt, da er von der Rechtsauffassung anderer Senate des BFH abweichen will. Sie ist entscheidungserheblich, da das Urteil tatsächlich am Vormittag des 24.12.2008 in den Briefkasten des P eingeworfen worden ist und nach Auffassung des vorlegenden Senats am 24.12. im Anschluss an die Rechtsprechung des BGH zu Zustellungen an auf einen Werktag fallenden Silvestertagen zumindest bis zum Mittag mit einer Kenntnisnahme von Geschäftspost gerechnet werden kann. Dies hätte die Verfristung der Revision zur Folge, ohne dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden könnte.

Maßgebende Rechtsvorschriften: Bei der Zustellung mit PZU (§§ 176 bis 182 ZPO i.V.m. § 53 Abs. 2 FGO) kann die Zustellung bei Nichtanwesenheit des Übergabeempfängers ersatzweise u.a. durch Einlegen in den Briefkasten (§ 180 ZPO) bewirkt werden. Der Zusteller vermerkt auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung (§ 180 Satz 3 ZPO) und hat dies ebenfalls in der Zustellungsurkunde gesondert zu beurkunden (§ 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO). Ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen (hier Fehlen des Zustellungsdatums auf dem Briefumschlag, der das FG-Urteil enthält), gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument dem Zustellungsempfänger nachweislich tatsächlich zugegangen ist (§ 189 ZPO). Zustellungsmängel sollen nach der Gesetzesbegründung zur Reform des Zustellungsrechts im Jahr 2001 also unbeachtlich bleiben, wenn der Zustellungszweck und damit die Verschaffung einer angemessenen Gelegenheit zur Kenntnisnahme eines Schriftstücks sowie die Dokumentation des Bekanntgabezeitpunkts erreicht sind.

Bisherige Rechtsprechung des BFH: Der BFH hat sich in mehreren Entscheidungen mit den Folgen für den Beginn von Rechtsmittelfristen befasst, wenn bei einer Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten das Datum auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks fehlte. So hat z.B. der II. Senat mit Beschluss vom 19.1.2005 (BFH v. 19.1.2005 - II B 38/04, BFH/NV 2005, 900) ein an einem Samstag an eine Anwaltskanzlei förmlich zugestelltes und in deren Briefkasten eingelegtes FG-Urteil wegen fehlenden Vermerks über das Datum der Zustellung auf dem Umschlag des zugestellten Schriftstücks als erst am folgenden Montag bewirkt angesehen, da der Empfänger dieses tatsächlich erst am Montag vorgefunden habe. Für den Zeitpunkt der Heilung des Zustellungsmangels komme es darauf an, wann das zuzustellende Schriftstück derart in die Hände des Empfängers gelangt sei, dass dieser von seinem Inhalt habe Kenntnis nehmen können. Auch der VI. Senat (BFH v. 19.9.2007 - VI B 151/06, BFH/NV 2007, 2332) und der I. Senat (BFH v. 21.9.2011 - I R 50/10, BStBl. II 2012, 197) vertraten in vergleichbaren Fällen die gleiche Auffassung.

Rechtsprechung des BGH: Der BGH hat sich ebenfalls mit der Heilung von Zustellungsmängeln befasst. So hat er die Zustellung eines Mahnbescheids für unwirksam erklärt, da der Postbedienstete den Bescheid nicht ausgehändigt, sondern einem Mitglied der Wohngemeinschaft übergeben hatte, das den Bescheid auf den Küchentisch der Wohngemeinschaft legte. Dieser Zustellungsmangel konnte mangels tatsächlichen Zugangs bei dem Empfänger nicht geheilt werden. In einem weiteren Urteil hat der BGH entschieden, es fehle an der für § 4 des Gewaltschutzgesetzes erforderlichen wirksamen vollstreckbaren Anordnung gegenüber dem Angeklagten, da ihm die einstweilige Verfügung aufgrund der nur mündlichen Wiedergabe des Verfügungsinhalts nicht wirksam zugestellt worden sei. Eine Heilung hätte nur eintreten können, wenn ihm das Schriftstück ausgehändigt worden wäre.

Schrifttum: Im Schrifttum wird der tatsächliche Zugang i.S.d. § 189 ZPO überwiegend bejaht, wenn das zuzustellende Schriftstück derart in den Machtbereich des Adressaten gelangt, dass dieser es behalten kann und Gelegenheit zur Kenntnisnahme von seinem Inhalt hat. Ein Teil der Literatur lässt die Möglichkeit der Kenntnisnahme als Zugangszeitpunkt nur dann genügen, wenn unter gewöhnlichen Umständen von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen gewesen wäre. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass der tatsächliche Zugang in § 189 ZPO die gegenständliche Übernahme des Schriftstücks durch den Adressaten selbst voraussetzt. Der bloße Eintritt in den Machtbereich genüge dagegen nicht.

Auffassung des beschließenden Senats: Der VIII. Senat geht zunächst davon aus, dass § 180 Satz 3 ZPO zu den zwingenden Zustellungsvorschriften gehört, sodass bei seiner Nichtbeachtung § 189 Alt. 2 ZPO erfüllt ist. Rechtsfolge davon ist, dass die in § 180 Satz 2 ZPO angeordnete Zustellungsfiktion nicht eingreift, denn sie setzt eine Ersatzzustellung voraus, die nicht gegen zwingende Zustellungsvorschriften verstößt. Dies ist der Fall, wenn das zuzustellende Schriftstück keinen Datumsvermerk enthält. Für die Frage, ob der Zustellungsmangel geheilt worden ist und zu welchem Zeitpunkt gegebenenfalls die Zustellung als bewirkt gilt, kommt es danach allein auf § 189 ZPO an. Im Streitfall ist der Mangel der Zustellung geheilt worden, da der Empfänger das Schriftstück unstreitig erhalten hat. Streitig ist nur der für die Heilung maßgebliche Zeitpunkt. § 189 ZPO stellt auf den Zeitpunkt ab, in dem das Dokument dem Zustellungsadressaten "tatsächlich zugegangen" ist. Wann dies der Fall ist, lässt sich dem Wortlaut der Vorschrift nicht eindeutig entnehmen. § 189 ZPO ist deshalb auszulegen.

Auslegung des § 189 ZPO: § 189 ZPO ist für die vorliegend zu beurteilende Fallgruppe dahin auszulegen, dass das zuzustellende Schriftstück im Zeitpunkt des Einwurfs in den Briefkasten "tatsächlich zugegangen" ist, wenn zu diesem Zeitpunkt mit der Kenntnisnahme unter Beachtung des gewöhnlichen Geschehensablaufs gerechnet werden konnte. Maßgebend ist der allgemeine Zugangsbegriff in § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB. Danach ist eine Erklärung dem Empfänger zugegangen, wenn sie so in seinen Machtbereich gelangt ist, dass er unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, von ihrem Inhalt Kenntnis zu nehmen. Zum einen wird die Möglichkeit der Kenntnisnahme nicht nach den individuellen, sondern nach den gewöhnlichen Umständen beurteilt. Des weiteren muss die Erklärung tatsächlich in den Bereich des Empfängers gelangt sein. Der Gesetzesbegründung zu § 189 ZPO sind Anhaltspunkte für einen abweichenden Zugangsbegriff nicht zu entnehmen. Bei der Auslegung ist zu bedenken, dass § 189 ZPO für ganz unterschiedliche Fallgruppen fehlerhafter und deswegen unwirksamer Zustellungen Heilungsmöglichkeiten anbieten soll, nämlich zumindest einerseits für die Fälle, in denen sich die formgerechte Zustellung nicht nachweisen lässt sowie andererseits für die Fälle, in denen das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist (vgl. § 189 ZPO). § 189 ZPO ist danach fallgruppenbezogen auszulegen. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll die Heilung eintreten, wenn der Zweck der Zustellung (sichere Möglichkeit der Kenntnisnahme von einem Schriftstück zu einem bestimmten Zeitpunkt) erfüllt ist. Dieser Zweck ist auch bei der Auslegung der Heilungsvorschrift zu beachten, denn § 189 ZPO fingiert als Rechtsfolge die Zustellung.

Möglichkeit der Kenntnisnahme ist maßgebend: Dieser Fiktion kann nur der Regelungswille entnommen werden, sicherzustellen, dass dem Adressat das Schriftstück ungeachtet etwaiger Zustellungsmängel auch tatsächlich zugänglich gemacht wurde. Der Gesetzgeber hat ersichtlich im Bereich des Ersatzzustellungsrechts generell keine weitergehenden   über die Regelung des § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB hinausgehenden   strengeren Anforderungen an den Zugang gestellt. Bei einer fehlerfreien Ersatzzustellung bestimmt § 180 Satz 2 ZPO, dass das Schriftstück "mit der Einlegung ... als zugestellt (gilt)". Mithin kommt es nicht auf eine tatsächliche Kenntnisnahme von dem zuzustellenden Schriftstück, sondern allein auf die mit der Einlegung geschaffene Möglichkeit der Kenntnisnahme an. Damit wird der Adressat fehlerhaft zugestellter Schriftstücke nicht schlechter gestellt als der Adressat ordnungsgemäß zugestellter Dokumente. Es besteht kein Anlass, ihn darüber hinaus gegenüber Adressaten verfahrensfehlerfreier Ersatzzustellungen besser zu stellen, indem er anders als letzterer erst ab dem   im Übrigen regelmäßig objektiv kaum verifizierbaren   Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntnisnahme die mit der Zustellung verbundenen verfahrens- und materiell-rechtlichen Folgen gegen sich gelten lassen müsste. Es muss auch berücksichtigt werden, dass die Mitteilung des Zustelldatums auf dem zuzustellenden Umschlag dem Zustellungsempfänger ermöglichen soll, für ihn geltende Fristen bestimmen zu können. Die Anordnung in § 180 Satz 3 ZPO dient eindeutig dem Schutz des Adressaten.

Höherbewertung des Zwecks der Zustellungsvorschriften: Vor diesem Hintergrund bewertet der Senat unter den Umständen des Streitfalls die objektiv-rechtlichen Zwecke der Zustellungsvorschriften höher als den Schutz des Adressaten. Dafür spricht zunächst, dass der Hauptzweck der Zustellung, dem Empfänger die sichere Möglichkeit der Kenntnisnahme zu verschaffen, unter den Umständen des Streitfalls von Anfang an erfüllt war. Mit dem Einwurf des Schriftstücks in den Kanzleibriefkasten war das Urteil so in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass er sicher von seinem Inhalt Kenntnis nehmen konnte. Auf die tatsächliche Kenntnisnahme kommt es nicht an. Zwar ist der Empfänger durch die fehlende Mitteilung über den Zeitpunkt der Zustellung benachteiligt. Der Hauptzweck der Zustellung, dem Empfänger die Möglichkeit der Kenntnisnahme zu verschaffen, wird dadurch jedoch nicht berührt. Für diese normative Bestimmung des Heilungszeitpunkts spricht vor allem, dass nur sie dem objektiven Zustellungszweck gerecht wird, den Zeitpunkt der Zustellung auch im Fall der Heilung einer zunächst fehlgeschlagenen Zustellung rechtssicher bestimmen zu können. Zweifel über das Datum der Zustellung können durch einen Anruf bei Gericht beseitigt werden.

Kein Leerlaufen des § 189 ZPO: Diese Auslegung lässt § 189 ZPO nicht leerlaufen. Bei der wirksamen Ersatzzustellung nach § 180 ZPO tritt die Zustellung bereits mit dem Einwurf in den Briefkasten ein (§ 180 Satz 2 ZPO). Ob die Kenntnisnahme zu diesem Zeitpunkt erwartet werden konnte, ist unerheblich. Demgegenüber kommt es für die Heilung zusätzlich darauf an, ob die Kenntnisnahme erwartet werden konnte. Darin liegt ein erheblicher Unterschied. Könnte die Heilung einer fehlerhaften Ersatzzustellung in jedem Fall erst in dem Zeitpunkt eintreten, in dem der Empfänger das zuzustellende Schriftstück nach seinen nicht überprüfbaren Angaben tatsächlich in die Hände genommen hat, wäre ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen des Zustellungsempfängers und des Zustellenden nicht gewährleistet und der objektiv-rechtliche Zweck, den Zeitpunkt der Zustellung rechtssicher bestimmen zu können, würde verfehlt. Er könnte darüber hinaus den Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntnisnahme und damit der Heilung hinauszögern und einseitig beeinflussen. Denn über den dann maßgeblichen Zeitpunkt könnte allein er – nicht nachprüfbare - Auskunft erteilen.

Zeitpunkt der Bekanntgabe bei Zustellung in Büroräumen: In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH geht der VIII. Senat davon aus, dass die Möglichkeit der Kenntnisnahme bei einer Rechtsanwaltskanzlei erwartet werden kann, wenn das zuzustellende Schriftstück am Vormittag des Heiligabends in den Briefkasten eingeworfen wird und wenn dieser Tag ein Werktag ist. Unerheblich ist, ob der Empfänger an diesem Tag im Büro gewesen ist oder nicht. Wenn er sich während der üblichen Geschäftszeiten nicht in seinem Büro aufhält und den Briefkasten nicht leert, hat er die Folgen zu tragen. Daran ändert das Fehlen des Vermerks gem. § 180 Satz 3 ZPO nichts. Der Vermerk soll den Empfänger über das Datum der Zustellung unterrichten, nachdem er eine Abschrift der Zustellungsurkunde nicht mehr erhält. Das Fehlen des Vermerks befreit den Zustellungsempfänger aber nicht von der Obliegenheit, diejenigen Schriftstücke, die bereits in seinen Machtbereich gelangt sind, während der üblichen Geschäftszeiten auch zur Kenntnis zu nehmen.

Beraterhinweis: Der Große Senat des BFH wird aufgrund des Vorlagebeschlusses des VIII. Senats nun Gelegenheit haben, zu der im Leitsatz genannten umstrittenen Rechtsfrage Stellung zu nehmen. Betroffen sind die Fälle, in denen die Zustellung gegen zwingende Zustellungsvorschriften verstoßen haben, aber eine Heilung des Zustellungsmangels dadurch eingetreten ist, dass der Zustellungsempfänger das zuzustellende Schriftstück – hier ein FG-Urteil – tatsächlich erhalten hat. Fraglich ist, ob – so der vorlegende Senat mit m.E. überzeugenden Gründen – die bloße Möglichkeit der Kenntnisnahme ausreicht, um von einem „tatsächlichen Zugang“ i.S.d. § 189 ZPO auszugehen, oder ob hierfür die tatsächliche Kenntnisnahme erforderlich ist. Für die Praxis bedeutet der Beschluss, dass Steuerberater und Anwälte bei Schließung ihrer Büros an Sylvestertagen und an Heiligabend darauf achten müssen, ob Schriftstücke, die Fristen auslösen, an diesen Tagen zugegangen sind.

RD a.D. Michael Marfels, Nordkirchen

Service: BFH v. 7.2.2013 – VIII R 2/09

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.08.2013 16:37

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