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Keine Haftung wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung bei Anonymität der mutmaßlichen Haupttäter

Die Haftung nach § 71 AO setzt u.a. voraus, dass der Tatbestand einer Steuerhinterziehung erfüllt ist. Im Zusammenhang mit anonymisierten Kapitaltransfers ins Ausland setzt die Feststellung einer Steuerhinterziehung voraus, dass der jeweilige Inhaber des in das Ausland transferierten Kapitals daraus in der Folge Erträge erzielt hat, die der Besteuerung im Inland unterlagen, dass er z.B. unrichtige Angaben in seiner Steuererklärung gemacht, dadurch Steuern hinterzogen und dabei vorsätzlich gehandelt hat. Kann das FG verbleibende Zweifel, ob und in welchem Umfang Steuerhinterziehungen begangen wurden, nicht ausräumen, muss es wegen der insoweit bestehenden Feststellungslast des FA zu dessen Lasten den Haftungstatbestand i.S.d. § 71 AO verneinen.

BFH v. 15.1.2013 – VIII R 22 /10

Streitig ist, ob der Kläger (K) wegen Beihilfe zu Steuerhinterziehungen durch anonym gebliebene Bankkunden haftet. K war Leiter der Wertpapieradministration bei einem großen deutschen Kreditinstitut X und unmittelbar dem Vorstand unterstellt. X war an zwei gleichnamigen Auslandsgesellschaften in Luxemburg und der Schweiz beteiligt. K veranlasste und genehmigte 1992 nach Abstimmung mit der Revision sowie der Rechtsabteilung der X zwei Anweisungen, um den anonymen Transfer von Wertpapieren zu den Auslandstöchtern der X zu ermöglichen. Zudem konnten effektiv eingelieferte Werte "auch ohne Legitimationsprüfung entsprechend der Kundenangabe (z.B. Kennwort oder Kundennummer)" angenommen werden. Das zuständige FA stellte fest, dass eine Vielzahl von Kunden der X und der beiden Tochtergesellschaften die Möglichkeit genutzt hatten, Kapital und Wertpapiere anonym über die Grenze zu den Tochtergesellschaften zu transferieren. Anstelle der personenbezogenen Kundendaten waren lediglich Referenznummern, Kundennummern, Depot-Kontennummern oder mit der Auslandsbank vereinbarte Kennworte auf den Transferbelegen vermerkt worden. Trotz der Anonymisierung gelang es der Finanzverwaltung unter Mithilfe der X, etwa 75 % der Vorgänge einzelnen Kunden zuzuordnen. Nahezu kein nachträglich enttarnter Kunde hatte die Erträge aus den ins Ausland transferierten Wertpapieren in seiner Einkommensteuererklärung angegeben. In etwa 6 % der Fälle hatte dies allerdings keine steuerverkürzende Wirkung. Die Identität der übrigen Kunden, die Bargeld und Wertpapiere anonym transferiert hatten, konnte nicht ermittelt werden. Insgesamt handelte es sich dabei um 1.149 Kunden, von denen 638 Kunden Wertpapiere transferiert hatten. Die ermittelte Nominalwertsumme der von diesen 638 Kunden transferierten Wertpapiere belief sich auf 304.732.400 DM.

Das beklagte FA nahm K wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in 638 Fällen für hinterzogene Einkommensteuer i.H.v. 2.250.824,46 € und Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer i.H.v. weiteren 1.204.178 € gem. § 71 AO in Haftung. Die Haftungssumme errechnete das FA auf der Grundlage der Ermittlungsergebnisse in der Vergleichsgruppe der enttarnten Kunden. Die identifizierten Kunden hätten im Durchschnitt Kapitalerträge von 8 % p.a. erzielt. Der durchschnittliche Einkommensteuersatz dieser Kunden habe bei 35 % gelegen. Unter Berücksichtigung eines Sicherheitsabschlags von 25 % ergebe sich daraus in der Gruppe der nicht identifizierten Kunden eine Summe an hinterzogener Einkommensteuer von nicht unter 2.250.824,46 €. Neben K seien auch die X, sechs damalige Vorstandsmitglieder sowie vier weitere leitende Angestellte in Haftung genommen worden. Den Einspruch des K gegen den Haftungsbescheid wies das FA zurück. Auf Antrag des K hatte der Senat die Vollziehung des Haftungsbescheids für die Dauer des Klageverfahrens ausgesetzt (vgl. BFH v. 16.7.2009 – VIII B 64/09, BStBl. II 2010, 8). Das FG (FG Düsseldorf v 8.2.2010 – 8 K 814/08 H) hat der Klage stattgegeben und den Haftungsbescheid aufgehoben; denn die Tatsache des anonymen Kapitaltransfers in einer bestimmten Anzahl von Fällen und in einer bestimmten Höhe lasse keinen sicheren Schluss darauf zu, dass die 638 nicht enttarnten Wertpapierkunden Steuern hinterzogen hätten.

Der BFH wies die Revision des FA als unbegründet zurück. Ohne Rechtsfehler habe das FG erkannt, dass K für die mögliche und auch wahrscheinliche, aber nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbare Steuerhinterziehung durch anonym gebliebene Bankkunden nicht gem. § 71 AO haftet. An die tatsächliche (negative) Feststellung des FG, wonach es von der Steuerhinterziehung jedes einzelnen anonym gebliebenen Kunden in keinem einzigen Fall überzeugt sei, sei der BFH gebunden.

Voraussetzungen der Haftung: Gemäß § 71 AO haftet, wer eine Steuerhinterziehung begeht oder an einer solchen Tat teilnimmt. Wer Teilnehmer einer Straftat ist, ergibt sich mangels eigener Begriffsbestimmungen für das Steuerrecht aus den §§ 25 bis 31 StGB (Täterschaft und Teilnahme). Gehilfe (§ 27 StGB) ist, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat.

Doppelter Gehilfenvorsatz: Die Haftung als Gehilfe einer Steuerhinterziehung erfordert, dass der Steuerschuldner die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung (§ 370 AO) verwirklicht hat. Der Steuerschuldner muss eine der in § 370 Abs. 1 AO beschriebenen Tathandlungen mit Vorsatz begangen und dadurch Steuern verkürzt haben. Der Gehilfe muss dazu vorsätzlich Hilfe geleistet haben. Das setzt eine von Vorsatz getragene Beihilfehandlung voraus. Der Vorsatz des Gehilfen muss sich darüber hinaus auch auf die Haupttat, also die Steuerhinterziehung durch den Steuerschuldner erstrecken (sog. doppelter Gehilfenvorsatz). Steuerrechtlich setzt die Haftung weiter voraus, dass der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis noch existiert (Akzessorietät der Haftung).

Maßgebliches Verfahren: Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen von Normen des materiellen Strafrechts - hier des § 370 AO - bei der Anwendung steuerrechtlicher Vorschriften wie § 71, § 169 Abs. 2 Satz 2, § 235 AO von den Finanzbehörden und den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit festzustellen, sind verfahrensrechtlich die Vorschriften der AO und der FGO maßgebend und nicht die StPO (BFH v. 5.3.1979 – GrS 5/77, BStBl. II 1979, 570, 573). Danach hat das FG gem. § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 FGO aufgrund seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Trotz Verletzung der - auch gesteigerten - Mitwirkungspflichten aus § 90 Abs. 1 und 2 AO darf es sich für die Feststellung einer Steuerhinterziehung nicht auf die Anwendung eines reduzierten Beweismaßes oder eine Schätzung beschränken. Verbleibende Zweifel gehen nach den Regeln der Feststellungslast zu Lasten des FA (BFH v. 7.11.2006 – VIII R 81/04, BStBl. II 2007, 364). Auch der Umstand, dass K gerade durch das ihm zur Last gelegte Verhalten die Enttarnung der Bankkunden aktiv erschwert und zum Teil vereitelt hat, vermag keine Ausweitung der Haftung über den gesetzlichen Tatbestand hinaus zu rechtfertigen.

Grad der Überzeugung: Welche Anforderungen im Einzelfall an die richterliche Überzeugungsbildung gestellt werden müssen, entzieht sich weitgehend abstrakter Festlegung. Grundsätzlich muss sich das Gericht ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln die volle Überzeugung vom Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen bilden (BFH v. 9.3.2011 – X B 153/10, BFH/NV 2011, 965).

Bindung des Revisionsgerichts: Nach 118 Abs. 2 FGO ist der BFH an die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, es sei denn, dass in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind. Die Feststellung oder Nichtfeststellung von Tatsachen durch das FG ist danach der revisionsrechtlichen Nachprüfung weitgehend entzogen. Sie ist grundsätzlich nur insoweit revisibel, als Verstöße gegen die Verfahrensordnung, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze vorgekommen sind. Im Übrigen binden die tatsächlichen Feststellungen das Revisionsgericht schon dann, wenn sie nicht zwingend, sondern nur möglich sind. 

Feststellungslast des FA: Kann das FG verbleibende tatsächliche Zweifel, ob und in welchem Umfang Steuerhinterziehungen begangen wurden, nicht ausräumen, muss es wegen der insoweit bestehenden Feststellungslast des FA zu dessen Lasten den Haftungstatbestand i.S.d. § 71 AO verneinen. Die Auffassung des FA, zur Begründung der Haftung gem. § 71 AO reiche auch ohne entsprechende einzelfallbezogene tatsächliche Feststellungen schon eine hinreichend sichere Annahme einer Steuerhinterziehung i.S. einer gruppenbezogenen Betrachtung aus (hier der nicht enttarnten Kunden), findet im Gesetz keine Stütze und ist mit den aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleiteten Anforderungen an die Bestimmtheit von Eingriffsrecht und die grundsätzliche Bindung des Richters an das Gesetz unvereinbar. Sie liefe auf eine vom Gesetz nicht vorgesehene Gefährdungshaftung hinaus.

Kein Erfahrungssatz: Nach Ansicht des BFH gibt es keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass, wer Kapital anonym ins Ausland verbringt, auch in der Steuererklärung unrichtige Angaben hinsichtlich der daraus erzielten Erträge macht (BFH v. 20.6.2007 – II R 66/06, BFH/NV 2007, 2057). Die Prüfung der Haftungsvoraussetzungen nach § 71 AO verlangt tatsächliche Feststellungen, aus denen sich das Vorliegen einer Steuerhinterziehung dem Grunde nach ergibt. Dies erfordert im Regelfall Feststellungen zur Zurechenbarkeit anonymisierter Kapitaltransfers ins Ausland zu bestimmbaren Steuerpflichtigen und Feststellungen, die die Überzeugung begründen, dass diese Steuerpflichtigen in ihren Steuererklärungen dazu keine oder unrichtige Angaben gemacht haben.

Beraterhinweis: Schon die strafrechtlichen Begriffe (Steuerhinterziehung, Teilnahme) gebieten für die Anwendung des § 71 AO eine grundsätzlich auf den Einzelfall abstellende Betrachtung. Deshalb hat der BFH einer gruppenbezogenen Beweiswürdigung eine Absage erteilt. In gleicher Weise hat er bloße Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe oder ein verringertes Beweismaß wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten ausgeschlossen.

Auch im Besteuerungs- und Finanzgerichtsverfahren ist der strafverfahrensrechtliche Grundsatz "in dubio pro reo" zu beachten. Dies erfordert indes keine Übernahme von Grundsätzen des Strafverfahrensrechts. Vielmehr lässt sich daraus ableiten, dass die Finanzbehörde (der Steuergläubiger) im finanzgerichtlichen Verfahren die objektive Beweislast (Feststellungslast) für steueranspruchsbegründende Tatsachen trägt. Es ist bezüglich des Vorliegens einer Steuerhinterziehung kein höherer Grad von Gewissheit erforderlich als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das FA die Feststellungslast trägt (BFH v. 7.11.2006 - VIII R 81/04, BStBl. II 2007,364; v 11.5.2012 – II B 63/11, BFH/NV 2012, 1455). Bei nicht behebbaren Zweifeln ist die Feststellung einer Steuerhinterziehung mittels reduzierten Beweismaßes - mithin im Schätzungswege - also nicht zulässig.

Hingegen kann die Höhe der hinterzogenen Steuern nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 AO geschätzt werden. Allerdings schließt es die Geltung des Grundsatzes "in dubio pro reo" aus, die Schätzung der hinterzogenen Steuern entsprechend den allgemeinen Grundsätzen im Falle der Verletzung von Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren an der oberen Grenze des für den Einzelfall zu beachtenden Schätzrahmens auszurichten (BFH v. 20.12.2000 – I R 50/00, BStBl. II 2001, 381; v. 7.11.2006 - VIII R 81/04, BStBl. II 2007,364).

Ein revisionsrechtlich beachtlicher Verstoß gegen die rechtlichen Anforderungen an die Überzeugungsbildung oder das erforderliche Maß von Überzeugung kann nur angenommen werden, wenn das FG die in § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 FGO angeordneten gesetzlichen Maßstäbe für die Überzeugungsbildung in grundlegender Weise verkannt hat.

Da im Streitfall die notwendigen tatsächlichen Feststellungen nicht möglich waren, konnte der BFH offen lassen, ob das Merkmal der "Steuerhinterziehung" in § 71 AO auch ohne (namentliche) Kenntnis des Täters in Betracht kommt.

Ebenso wenig sah der BFH eine Veranlassung zu einer abschließenden Stellungnahme, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Wahrscheinlichkeitsaussagen überhaupt zur richterlichen Überzeugungsbildung herangezogen werden dürfen, weil das FG seine Entscheidungsbildung auf solche Wahrscheinlichkeitsaussagen nicht gestützt hatte.

Richter am BFH a.D. Dieter Steinhauff, München

Service: BFH v. 15.1.2013 – VIII R 22 /10

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.04.2013 16:38

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