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Maßgeblichkeit der objektiven Rechtslage (Aufgabe des subjektiven Fehlerbegriffs)

Die Verpflichtung des FA, die Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen ausschließlich auf der Grundlage des für den Bilanzstichtag objektiv geltenden Rechts ohne Rücksicht auf Rechtsansichten des Steuerpflichtigen zu prüfen und ggf. zu korrigieren, besteht unabhängig davon, ob sich die zutreffende Rechtsansicht des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten oder zu seine Lasten ausgewirkt hat. Eine Übergangsregelung beim Übergang vom subjektiven Fehlerbegriff zur Maßgeblichkeit der objektiven Rechtslage ist nicht zu treffen.

BFH v. 31.1.2013 – GrS 1/10

Die Klägerin (K), eine GmbH, bot ihren Kunden den verbilligten Erwerb von Mobiltelefonen für den Fall an, dass diese mit ihr einen Mobilfunkdienstleistungsvertrag mit einer Laufzeit von mindestens 24 Monaten abschlossen oder einen bestehenden Vertrag entsprechend verlängerten. Das FA war der Auffassung, die durch die verbilligte Abgabe der Mobiltelefone entstandenen Betriebsvermögensminderungen stellten einen Aufwand dar, der sich nicht in einem Jahr in vollem Umfang gewinnmindernd auswirken dürfe. Vielmehr sei eine Verteilung über einen aktiven RAP erforderlich. K lehnte die Bildung eines RAP ab. Sehe man dies anders, sei das FA dennoch unter Berücksichtigung des subjektiven Fehlerbegriffs an die in der eingereichten Bilanz zum Ausdruck kommenden Rechtsauffassung gebunden. Dieses habe nämlich bei der Aufstellung der Bilanz wegen der seinerzeit ungeklärten Rechtslage der kaufmännischen Sorgfalt nicht widersprochen. Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte keinen Erfolg.

Der I. Senat des BFH teilte die Rechtsauffassung des FA und FG. Da diese Rechtsauffassung von der bisherigen Rechtsprechung des BFH zum subjektiven Fehlerbegriff abweicht und die Grundfrage des Bilanzsteuerrechts von großer praktischer Bedeutung ist, legte der I. Senat die Rechtsfrage dem Großen Senat des BFH wegen grundsätzlicher Bedeutung vor.

Entscheidung der Vorlagefrage: Der Große Senat des BFH beantwortete die vorgelegte Rechtsfrage wie folgt: Das FA ist im Rahmen der ertragsteuerrechtlichen Gewinnermittlung auch dann nicht an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz und deren einzelnen Ansätzen zugrunde liegt, wenn diese Beurteilung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar war.

Auswirkungen: Das gilt auch für eine in diesem Zeitpunkt von Verwaltung und Rechtsprechung praktizierte, später aber geänderte Rechtsauffassung.

Objektiv richtige Rechtslage maßgebend: Verwaltung und Gerichte sind verpflichtet die objektiv richtige Rechtslage zugrunde zu legen. Dies ergibt sich aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG und dem in Art. 20 Abs. 3 und Art .28 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Rechtsstaatsprinzip sowie für die Gerichte ergänzend aus Art. 97 Abs. 1 GG, wonach die Richter dem Gesetz unterworfen sind.

Gleichmäßige Belastung gewährleisten: Im Steuerrecht müssen von Verfassungs wegen die steuerbegründenden Vorschriften dem Prinzip einer möglichst gleichmäßigen Belastung der Steuerpflichtigen besonders sorgfältig Rechnung tragen. Dies ist auch bei der Auslegung steuerrechtlicher Vorschriften zu beachten.

Tatsächlich verwirklichter Sachverhalt: Für die Besteuerung ist danach abgesehen von im Einzelfall gebotenen Billigkeitsmaßnahmen (§§ 163, 227 AO) generell die objektive Rechtslage maßgebend. Den vom Steuerpflichtigen vertretenen Rechtsansichten kommt auch dann keine Bedeutung zu, wenn sie bei der Aufstellung der Bilanz vertretbar waren oder der damals herrschenden Auffassung entsprachen. Die Besteuerung knüpft an den tatsächlich verwirklichten Sachverhalt an, nicht aber an Rechtsansichten des Steuerpflichtigen, und erfolgt materiell-rechtlich ohne Rücksicht auf deren Vertretbarkeit oder Verschulden des Steuerpflichtigen.

Ausweitung der Grundsätze: Auf die objektive Rechtslage kommt es auch dann an, wenn die vom Steuerpflichtigen einem Bilanzansatz zugrunde gelegte Rechtsauffassung der seinerzeit von der Finanzverwaltung und/oder Rechtsprechung gebilligten Bilanzierungspraxis entsprach. Auch in einem solchen Fall ist allein die im Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung maßgebliche, objektiv zutreffende Rechtslage zugrunde zu legen. Der Große Senat geht insoweit über die vom I. Senat vorgelegte Frage hinaus.

Pflicht zur Änderung: Entsprechen Bilanzansätze objektiv nicht den jeweils maßgeblichen speziellen bilanzsteuerrechtlichen Vorschriften oder den handelsrechtlichen GoB, ist das FA unabhängig von einem Recht oder einer Pflicht des Steuerpflichtigen zur Berichtigung der Bilanz gem. § 4 Abs. 2 Satz 1 EStG zu einer eigenständigen Gewinnermittlung berechtigt und verpflichtet.

Eigenständiges Recht des FA: Die Abweichung von der Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen im Rahmen der Steuerfestsetzung ist keine Bilanzberichtigung, sondern eine eigenständige Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen durch das FA, der § 4 Abs. 2 EStG nicht entgegensteht.

Beraterhinweis: Der Große Senat hat mit seiner Entscheidung endlich Rechtssicherheit in die Frage der Maßgeblichkeit des subjektiven Fehlerbegriffs bilanzieller Rechtsfragen oder der objektiven Rechtslage gebracht, indem er diese Frage zugunsten der objektiven Rechtslage entschied.

Das FA hat einen Bilanzierungsfehler des Steuerpflichtigen grundsätzlich bei der Steuerfestsetzung oder Gewinnfeststellung für den VZ zu berichtigen, in dem der Fehler erstmals aufgetreten ist und steuerliche Auswirkungen hat. Das gilt auch dann, wenn die Bilanzierung auf einer später geänderten Rechtsprechung beruht. Liegt die fehlerhafte Bilanz einem Steuer- oder Feststellungsbescheid zugrunde, der aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht mehr geändert werden kann, ist nach dem Grundsatz des formellen Bilanzzusammenhangs der unrichtige Bilanzansatz grundsätzlich bei der ersten Steuerfestsetzung oder Gewinnfeststellung richtigzustellen, in der dies unter Beachtung der für den Eintritt der Bestandskraft und der Verjährung maßgeblichen Vorschriften möglich ist.

Eine Übergangsregelung hat der Große Senat nicht getroffen. Da sowohl Finanzverwaltung als auch die Rechtsprechung gem. Art. 20 Abs. 3 GG an die Gesetze gebunden sind, käme ohnehin nur ausnahmsweise eine Übergangsregelung zugunsten der Steuerpflichtigen in Betracht. Hierfür gibt es aber keinen Anhaltspunkt. Es kann nur Vertrauensschutz gem. § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO zu gewähren sein.

Über die Anwendung des subjektiven Fehlerbegriffs auf Fälle, in denen der Steuerpflichtige bei der Bilanzierung von unzutreffenden Tatsachen (Prognosen oder Schätzungen) ausgegangen ist, ohne dabei gegen die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten verstoßen zu haben, war aufgrund der vom I. Senat vorgelegten Rechtsfrage leider nicht zu befinden, so dass dieses Problem weiter offen bleibt.

Dipl.-Finw., RD, Wilfried Apitz, Sundern

Service: BFH v.31.1.2013 – GrS 1/10

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 04.04.2013 10:23

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