Otto Schmidt Verlag


Vorlage des ErbStG an das BVerfG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit

Der BFH hält § 19 Abs. 1 i.V.m. §§ 13a und 13b ErbStG in der im Jahr 2009 geltenden Fassung wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) wegen Begünstigungsüberhangs für verfassungswidrig. Die Verfassungsverstöße führen teils für sich allein, teils in ihrer Kumulation zu einer durchgehenden, das gesamte Gesetz erfassenden verfassungswidrigen Fehlbesteuerung. Die Gleichstellung von Personen der Steuerklasse II und III im Jahr 2009 ist nicht verfassungswidrig.

BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11

Der zur Steuerklasse II gehörende Kläger (K) hatte im Jahr 2009 nicht begünstigtes Vermögen geerbt und hierfür erfolglos die rückwirkende Anwendung des ab 2010 geltenden Steuersatzes von 15 % statt des für 2009 gesetzlich vorgesehenen Steuersatzes von 30 % beantragt. Der BFH hat im anhängigen Revisionsverfahren das BMF zum Verfahrensbeitritt aufgefordert, da es zusätzlich auch um die Frage der Verfassungsmäßigkeit des ErbStG insgesamt gehe, insbesondere im Hinblick auf die für bestimmte Vermögen vorgesehenen Steuerbefreiungen.

Der BFH sieht in der Gleichstellung von Personen der Steuerklasse II und III im Jahr 2009 keinen Verfassungsverstoß, ist aber davon überzeugt, dass die Vorschrift des § 19 Abs. 1 ErbStG i.V.m. §§ 13a und 13b ErbStG wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verfassungswidrig ist, weil die in §§ 13a und 13b ErbStG vorgesehenen Steuervergünstigungen in wesentlichen Teilbereichen von großer finanzieller Tragweite über das verfassungsrechtlich gerechtfertigte Maß hinausgehen und dadurch die Steuerpflichtigen, die die Vergünstigungen nicht beanspruchen können, in ihrem Recht auf eine gleichmäßige, der Leistungsfähigkeit entsprechende und folgerichtige Besteuerung verletzt werden.

Gleichstellung von Personen der Steuerklasse II und III im Jahr 2009 verfassungsgemäß: Es ist aufgrund der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit verfassungsrechtlich hinzunehmen, dass der Gesetzgeber Erwerber der Steuerklasse II nicht besser stellt als Erwerber der Steuerklasse III. Art. 6 GG (Schutz der Familie) ist nicht berührt, da diese Norm nur die Familie im engeren Sinne (Gemeinschaft von Eltern und Kindern) schützt. Die ab 2010 durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz erfolgte Besserstellung der Personen der Steuerklasse II musste nicht rückwirkend auch auf das Jahr 2009 ausgedehnt werden, um eine verlässliche Finanz- und Haushaltsplanung der Länder zu sichern.

Wechselwirkung von Steuertarif und Bemessungsgrundlage: Zunächst weist der BFH auf die verfassungsrechtlich maßgebliche Wechselwirkung von Steuertarif und Steuerbemessungsgrundlage hin: Da der einheitliche Steuertarif jeweils von der Steuerklasse und dem Wert des steuerpflichtigen Erwerbs abhängt, erfolgen Differenzierungen bei der Belastung des Steuerpflichtigen bereits auf der Ebene der Ermittlung des steuerpflichtigen Erwerbs. Folglich können gleichheitswidrige Vorschriften über die Ermittlung der Bemessungsgrundlagen (Bewertungs- oder Befreiungsvorschriften) zu einem gleichheits- und damit verfassungswidrigen Steuertarif führen.

Gleichheitswidrige Ausgestaltung der Steuerbemessungsgrundlage: Nach Überzeugung des BFH verstößt die Tarifvorschrift des § 19 ErbStG gegen Art. 3 Abs. 1 GG infolge der weitgehenden oder vollständigen steuerlichen Verschonung des Erwerbs von Betriebsvermögen, LuF-Vermögen und Anteilen an Kapitalgesellschaften ohne Vorliegen von ausreichenden Gemeinwohlgründen und der dadurch bedingten verfassungswidrigen Überprivilegierung der genannten Vermögensarten. Dies gilt jedenfalls, soweit die Gewährung der Steuervergünstigungen nicht von der Lohnsummenregelung und somit von der Erhaltung von Arbeitsplätzen abhängt. §§ 13a und 13b ErbStG weisen einen verfassungswidrigen Begünstigungsüberhang auf, da sie es Steuerpflichtigen ermöglichen, durch rechtliche Gestaltungen nicht betriebsnotwendiges Vermögen in unbegrenzter Höhe ohne oder mit nur geringer Steuerbelastung zu erwerben, und die Vorschriften ferner auch hinsichtlich der Lohnsummenregelung dem Folgerichtigkeitsgebot widersprechen. Ferner lassen es §§ 13a und 13b ErbStG zu, Vermögen jeder Art und in jeder Höhe von Todes wegen oder durch Schenkung ohne Anfall von Erbschaftsteuer zu erwerben, ohne Berücksichtigung einer Gemeinwohlverpflichtung und -bindung. Verschonungsregelungen für den Erwerb bestimmter Vermögensgegenstände erfordern das Vorliegen ausreichender Gemeinwohlgründe; die Lenkungszwecke müssen von erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidungen getragen, der Kreis der Begünstigten sachgerecht abgegrenzt und die Lenkungszwecke gleichheitsgerecht ausgestaltet sein. Sie dürfen nicht insgesamt zu einer verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbaren Überprivilegierung führen. Diese Voraussetzungen erfüllen die §§ 13a und 13b ErbStG nicht, da diese Normen zu einer weitgehenden, den Kern des Gesetzes treffenden gleichheitswidrigen Fehlbesteuerung führen und im Zusammenspiel mit der Tarifnorm des § 19 ErbStG alle wesentlichen Teilbereiche des ErbStG erfassen.

Überprivilegierung des Erwerbs von Betriebs- und LuF- Vermögen und Anteilen an Kapitalgesellschaften: Die weitgehende oder vollständige Verschonung des genannten Erwerbs verstößt insoweit gegen Art. 3 Abs. 1 GG, als Unternehmen mit bis zu 20 Beschäftigten - wie es im Regelfall zutrifft – begünstigt sind, so dass die Vergünstigungen nicht von der Erhaltung von Arbeitsplätzen abhängen. Die pauschale Begünstigung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, da nicht unterstellt werden kann, dass die Belastung mit Erbschaftsteuer die Betriebsfortführung typischerweise gefährdet. Zudem kann bei Erwerb weiteren Vermögens die Erbschaftsteuer ohne Gefährdung der Betriebsfortführung hieraus bezahlt werden. Weiterhin ermöglicht die Stundungsregelung des § 28 ErbStG die Sicherung des Betriebserhalts. Außerdem ist die Begünstigung nicht "zielgenau", da sie auch bei Nichtvorliegen eines Begünstigungsgrunds gewährt wird. Beim Erwerb von Anteilen an Kapitalgesellschaften berührt die Belastung mit Erbschaftsteuer i.d.R. lediglich die private Vermögenssphäre des Erwerbers, so dass es auch insoweit an einem sachlichen Grund für die Privilegierung fehlt. Das ErbStReformG hat die Steuervergünstigungen vielfach noch weit über das frühere Recht hinaus gewährt und ermöglicht u.U. eine völlige Freistellung von der Steuer, so dass sich die Frage der Überprivilegierung verstärkt stellt. Der für die Behaltensregelungen maßgebende Zeitraum von lediglich fünf bzw. sieben Jahren ist im Hinblick auf die Höhe der Steuervergünstigungen unverhältnismäßig kurz, zumal ein Verstoß hiergegen i.d.R. nur zu einem teilweisen rückwirkenden Wegfall des Verschonungsabschlags führt.

Da auch Erwerber großer und größter Unternehmen begünstigt sind, fördern die Steuervorteile die Konzentration von Unternehmensvermögen bei vergleichsweise wenigen Personen. Dafür werden Erwerber von nicht begünstigten Vermögen mit höheren Steuern belastet ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung.

Grenzen der Privilegierung: Bei der Gestaltung der Steuerlast durch die Erbschaftsteuer ist zwar zu berücksichtigen, dass die Existenz von bestimmten, vor allem mittelständischen Betrieben durch zusätzliche finanzielle Belastungen gefährdet werden kann und deren besondere Gemeinwohlbindung zu einer verminderten Leistungsfähigkeit der den Betrieb weiterführenden Erben führt. Die Erbschaftsteuer darf diese Gefährdung nicht herbeiführen. Eine vollständige bzw. weitgehende Steuerbefreiung unabhängig von der tatsächlichen Leistungsfähigkeit des Erwerbers ist verfassungsrechtlich jedoch nicht hinnehmbar, zumal erfahrungsgemäß bisher keine Betriebe durch die Erbschaftsteuer in Bedrängnis gebracht wurden. Es ist nicht hinnehmbar, dass allein wegen der Belastungsunterschiede nur aus erbschaftsteuerrechtlichen Gründen eine bestimmte Rechtsform oder Finanzierung gewählt wird.

Widerspruch zur Stundungsregelung: § 28 ErbStG ermöglicht eine Stundung nur, wenn dies zur Erhaltung des Betriebs notwendig ist. Die viel weiter gehenden Steuervergünstigungen der §§ 13a, 13b ErbStG greifen aber auch, wenn sie für die Betriebsfortführung nicht erforderlich sind. Dies ist gleichheitswidrig.

Begünstigungsüberhang durch die Regelungen über das sog. Verwaltungsvermögen: Die Regelungen über das sog. Verwaltungsvermögen grenzen den Kreis der Begünstigten nicht sachgerecht ab; die Begünstigungswirkungen treten nicht hinreichend zielgenau ein. Die Abgrenzung zwischen risikobehafteten und deshalb zu begünstigendes Betriebsvermögen und weitgehend risikolosem und daher nicht begünstigungswürdigem Betriebsvermögen ist hierdurch nicht möglich. Es ist gleichheitswidrig, dass bei der Regelverschonung das Betriebsvermögen bis zu 50 % (unschädliches Verwaltungsvermögen) aus nicht betriebsnotwendigem Vermögen bestehen kann. Zahlreiche Vermögensgegenstände, die weitgehend der risikolosen Renditeerzielung dienen, können zu "gewillkürtem" Betriebsvermögen erklärt oder in eine Kapitalgesellschaft eingelegt bzw. auf diese übertragen und somit als begünstigtes, weitgehend oder voll steuerbefreites Vermögen behandelt werden, wovon in der Praxis auch häufig Gebrauch gemacht wird. Die 50%-Grenze stellt keine zulässige Typisierung dar, da nicht erkennbar ist, dass Betriebe aus Gründen der Liquidität etc. typischerweise bis zu 50 % Verwaltungsvermögen haben müssen. Die Möglichkeit der Schaffung von Betriebsvermögen führt letztlich zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Sonderverschonung des Privatvermögens für die Inhaber von Betriebsvermögen oder Anteilseigner.

Behandlung von Geldforderungen: Ein gleichheitswidriger Begünstigungsüberhang ohne sachlichen Rechtfertigungsgrund ergibt sich auch daraus, dass Geldforderungen (Sichteinlagen, Sparanlagen, Festgeldkonten, Kundenforderungen) nicht zum Verwaltungsvermögen gehören, so dass ein GmbH-Anteil, dessen Vermögen ausschließlich aus solchen Forderungen besteht, ggf. voll steuerfrei erworben werden kann. Von dieser Gestaltung (Gründung sog. "Cash-GmbH" oder lediglich vermögensverwaltenden gewerblich geprägten Personengesellschaft) wird häufig Gebrauch gemacht, ohne dass hierin ein Gestaltungsmissbrauch gesehen werden kann. Die Notwendigkeit für einen Betrieb, finanzielle Mittel zur Erfüllung von Verpflichtungen bereit zu halten, erfordert es nicht, solche Guthaben in beliebiger Höhe unabhängig vom Vorhandensein anderen Betriebsvermögens und von dessen Wert nicht zum Verwaltungsvermögen zu rechnen.

Umwandlung von Verwaltungsvermögen in begünstigtes Vermögen: Zu einem gleichheitswidrigen Begünstigungsüberhang und Verstoß gegen des Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit führt auch die Möglichkeit, aus begünstigungsschädlichem Verwaltungsvermögen (z.B. Grundstücke, Aktien) begünstigtes Betriebsvermögen zu machen, indem z.B. eine GmbH 1 dieses an die GmbH 2 gegen Kaufpreisstundung zum Verkehrswert veräußert. Damit ist der GmbH-Anteil voll begünstigt, da ihre Kaufpreisforderung kein Verwaltungsvermögen ist; der Erwerb der Anteile an der GmbH 2 ist ebenso steuerfrei, da dem Verwaltungsvermögen eine entsprechende Kaufpreisschuld gegenüber steht, so dass die GmbH 2 ihr Vermögen beliebig ausschütten kann. Die Lohnsummenregel greift nicht, da solche Gesellschaften i.d.R. nicht mehr als 20 Arbeitnehmer haben. Dass dies der Gesetzgeber künftig nicht hinnehmen will, ergibt sich aus dem Entwurf des JStG 2013.

Begünstigungsüberhang durch die Lohnsummenregelungen: Die Einhaltung der Lohnsummen im Behaltenszeitraum spielt i.d.R. für die Verschonung keine entscheidende Rolle, weil weit mehr als 90 % aller Betriebe nicht mehr als 20 Beschäftigte aufweisen. In den übrigen Fällen kann die Lohnsummenregel durch entsprechende Gestaltungen umgangen werden, indem das Vermögen im Rahmen der Betriebsaufspaltung auf die Besitzgesellschaft mit nicht mehr als 20 Arbeitnehmern übertragen wird, während die Betriebsgesellschaft nur einen geringen Wert hat und eine beliebige Zahl von Beschäftigten haben kann. Das der Betriebsgesellschaft überlassene Vermögen ist kein Verwaltungsvermögen. Damit wird gegen das Gebot der Zielgenauigkeit der Verschonungsregelungen und das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verstoßen.

Freistellung als Regelfall, Besteuerung als Ausnahme: Die Steuervergünstigungen nach §§ 13a und 13b ErbStG führen zusammen mit zahlreichen anderen Verschonungen und den Freibeträgen des § 16 ErbStG dazu, dass nur ein geringer Teil der steuerbaren Erwerbe tatsächlich besteuert wird. Dies entspricht nicht den Anforderungen an eine gleichmäßige Besteuerung. Die vollständige Befreiung bestimmter Steuergegenstände muss aber die Ausnahme sein. Verfassungsrechtlich nicht zulässig ist es demnach, wenn die Steuerbefreiung die Regel und die tatsächliche Besteuerung die Ausnahme ist.

Maßgeblichkeitsprüfung: Für die Entscheidung des Streitfalls kommt es auf die Gültigkeit des § 19 Abs. 1 ErbStG an. Sollte § 19 Abs. 1 ErbStG verfassungsgemäß sein, wäre die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Bei Bejahung der Verfassungswidrigkeit der Norm müsste der Klage unter Aufhebung der Vorentscheidung stattgegeben oder das Verfahren gem. § 74 FGO bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber ausgesetzt werden. Bei Unvereinbarkeit der Begünstigung von Betriebsvermögen etc. mit dem Gleichheitsgrundsatz könnte der Gesetzgeber auch für den Erwerb von Privatvermögen unter noch zu bestimmenden Voraussetzungen den §§ 13a und 13b ErbStG vergleichbare Steuervergünstigungen einführen.

Beraterhinweis: Aufgrund des Beschlusses des BFH v. 5.10.2011 (BFH v. 5.10.2011 - II R 5/11, StBW 2011, 1062), mit dem das BMF zum Verfahrensbeitritt aufgefordert worden war, unter Hinweis auf die verfassungsrechtliche Problematik der Begünstigungsvorschriften des ErbStG, war der nunmehrige Vorlagebeschluss zu erwarten. Es ist zu erwarten, dass das BVerfG sich der Argumentation des BFH anschließen wird, so dass künftig wesentlich schärfere Voraussetzungen für die Vergünstigung bestimmter Vermögensarten erfüllt sein müssen. Im Hinblick auf die zu erwartende künftige Streichung der weitgehenden Verschonung von begünstigtem Vermögen sollten geplante Vermögensübertragungen vorgezogen werden, um noch vom derzeitigen günstigen Rechtszustand zu profitieren. Auch bei Vorbehaltsbescheiden kann wegen des Vertrauensschutzes nach § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO keine Änderung mehr zuungunsten des Steuerpflichtigen erfolgen.

RD a.D. Michael Marfels, Nordkirchen

Service: BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11
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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 11.10.2012 16:32

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