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BFH legt BVerfG ein Verfahren wegen Treaty override vor

Für in der Türkei erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit hat gem. Art. 15 Abs. 1 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 DBA-Türkei 1985 Deutschland kein Besteuerungsrecht. Für diese Einkünfte wird aber gem. § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG 2002 die Freistellung nach innerdeutschem Recht nicht gewährt, wenn

  • die Besteuerung im Staat der Arbeitsausübung nicht nachgewiesen werden kann oder
  •  nicht ausdrücklich nachgewiesen wird, dass der Staat der Arbeitsausübung auf sein Besteuerungsrecht verzichtet hat.

Wenn die eine oder andere Bedingung für die Freistellung vom unbeschränkt Steuerpflichtigen Arbeitnehmer nicht nachgewiesen wird, stellt Deutschland hiernach die Einkünfte nicht frei. Diese als Treaty override bezeichnete Besteuerung über den Abkommenstext hinaus nach nationalem Steuerrecht wird jetzt vom I. Senat als Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 und Art. 25 GG angesehen.

BFH v. 10.1.2012 – I R 66/09

Der in Deutschland wohnhafte Kläger (K) erzielte als Techniker Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. In 2004 übte er vom 8.3. bis 31.12. seine Tätigkeit in der Türkei aus. Für den hierfür erhaltenen Arbeitslohn i.H.v. ca. 93.000 € beantragte er in seiner Einkommensteuererklärung die Freistellung gem. Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 i.V.m. Art. 15 Abs. 1 DBA-Türkei 1985. Das FA entsprach diesem Antrag nicht und besteuerte die Einkünfte mit den übrigen Einkünften unter Verweis auf § 50d Abs. 8 EStG 2004, da der Techniker nicht nachweisen konnte, dass seine in der Türkei erzielten Einkünfte dort besteuert worden waren. Auch ein Verzicht auf die Besteuerung durch den türkischen Staat wurde nicht nachgewiesen. Der Steuerpflichtige erhob gegen die Einkommensteuerfestsetzung Klage, die aber erfolglos blieb. K legte daher Revision ein und beantragt weiterhin die Freistellung für die in der Türkei erzielten Einkünfte.

Der BFH hält die Vorschrift des § 50d Abs. 8 EStG für verfassungswidrig und legt daher diese Frage dem BVerfG zur Entscheidung vor.

Besteuerungsrecht steht nach DBA der Türkei zu: Nach § 1 Abs. 1 EStG ist K aufgrund seines Wohnsitzes in Deutschland unbeschränkt mit seinen weltweiten Einkünften steuerpflichtig. Aufgrund des mit der Türkei abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommens vom 16.4.1985 (DBA-Türkei) steht aber für in der Türkei aufgrund dortiger Tätigkeit erzielte Einkünfte der Republik Türkei das Besteuerungsrecht nach Art. 15 Abs. 1 DBA-Türkei zu. Dementsprechend stellt nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 DBA-Türkei Deutschland diese Einkünfte steuerfrei. Nach dem Abkommen ist diese Freistellung an keine weitere Voraussetzung – insbesondere nicht an den Nachweis der Besteuerung in der Türkei – geknüpft. Das Abkommen enthält keine Rückfallklausel, die bei fehlender Besteuerung in der Türkei das Besteuerungsrecht wieder Deutschland gewährt.

Steuerfolge aus § 50d Abs. 8 EStG: In § 50d Abs. 8 EStG wird bestimmt, dass die Freistellung nach einem DBA nicht zur Anwendung kommt, wenn und soweit

  • der Steuerpflichtige nachweist, dass er die im anderen DBA-Staat festgesetzte Steuer entrichtet hat oder
  • dass dieser Staat auf das ihm zustehende Besteuerungsrecht verzichtet hat.

Im Urteilsfall konnte von K keine der beiden Voraussetzungen nachgewiesen werden, deshalb fiel gem. § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG das Besteuerungsrecht wieder an Deutschland zurück.

Verfassungsrechtliche Beurteilung von § 50d Abs. 8 EStG: Der BFH untersucht im Anschluss an die Feststellung, dass nach dem nationalen Steuerrecht Deutschland das Besteuerungsrecht auch für die in der Türkei erzielten Einkünfte zusteht, die Frage, ob diese Vorschrift verfassungsgemäß ist. Die in § 50d Abs. 8 EStG getroffene Regelung weicht von der Besteuerungszuordnung im DBA-Türkei ab und bricht damit die im Abkommen getroffene völkerrechtliche Vereinbarung. Mit diesem sog. Treaty override verstößt demnach Deutschland gegen den auch im Völkerrecht geltenden Grundsatz „pacta sunt servanda“. Da aber alle Doppelbesteuerungsabkommen in Deutschland erst durch ein Zustimmungsgesetz Wirkung entfalten (Art. 59 Abs. 2 GG), hat das DBA im Ergebnis innerstaatlich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Diese Rangstellung der Gesetze hatte die Literatur und auch der I. Senat bisher dazu veranlasst, das Treaty overriding aus rechtspolitischer Sicht zwar als unerfreulich, aber nicht als verfassungsrelevanten Verstoß anzusehen.

BFH ändert bisherige Auffassung: An dieser Auffassung hält der BFH jetzt nicht mehr fest. Zur Begründung verweist das Gericht auf die Beschlüsse des BVerfG vom 14.10.2004 (BVerfG v. 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04, Görgulü-Beschluss, BVerfGE 111, 307) und vom 26.10.2004 (BVerfG v. 26.10.2004 - 2 BvR 955/00, Alteigentümer-Beschluss, BVerfGE 112, 1), in denen das BVerfG den Gesetzgeber darauf hinweist, dass er von der Verfassung gehalten ist, das Völkervertragsrecht zu beachten. Eine Ausnahme von dieser Regel kann es nur geben, wenn dies zur Beachtung der Menschenwürde und der Grundrechte erforderlich ist. Die Zuweisung des Besteuerungsrechts für die hier betroffenen Einkünfte an den Tätigkeitsstaat ohne abkommensrechtliche Rückfallklausel an den Wohnsitzstaat gibt aber keine Rechtfertigung für einen Bruch des Völkerrechts.

Der BFH untersucht dann, ob durch die mögliche doppelte Freistellung der Einkünfte im Wohnsitz- und im Tätigkeitsstaat eine Ungleichbehandlung gegenüber Steuerpflichtigen entsteht, die ihre Einkünfte nur in Deutschland beziehen und hier versteuern müssen. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass in Deutschland und in der Türkei arbeitende Personen nach den Wertungen des Art. 3 Abs. 1 GG nicht miteinander vergleichbar sind und deshalb der deutsche Gesetzgeber nicht durch § 50d Abs. 8 EStG eine vorgebliche Ungleichheit ausgleichen muss. Die Verhinderung der „Keinmalbesteuerung“ rechtfertigt es nicht, das abkommensrechtlich Vereinbarte zu durchbrechen. Der Tätigkeitsstaat allein soll und muss entscheiden, ob in seinem Gebiet erarbeitete Vergütungen von ihm besteuert werden (vgl. BFH vom 11.1.2012 – I R 27/11, StBW 2012, 307).

Der Verstoß von § 50d Abs. 8 EStG gegen vorrangiges Völkervertragsrecht stellt damit zugleich einen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG dar, der dem Steuerpflichtigen gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Beachtung dieses Rechts gewährt.

Da der BFH über diese Grundrechtsfrage gem. Art. 100 Abs. 1 GG nicht selbst entscheiden kann, hat er die Frage dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt.

Beraterhinweis: Besteuerungsfälle, bei denen § 50d Abs. 8 EStG die gesetzliche Grundlage für die Besteuerung von Einkünften ist, sollten auf jeden Fall offengehalten werden. Das gilt nicht nur für die Anwendung des DBA-Türkei, sondern auch für Einkünfte aus anderen DBA-Staaten. Auch andere Fälle des Treaty override dürften nach dieser jetzt vertretenen Ansicht des BFH nicht mit der Verfassung vereinbar sein, so z.B. die unter § 50d Abs. 9 EStG zu subsumierenden Einkünfte nach anderen Einkunftsarten. Die neue Rechtsauffassung zur Verfassungswidrigkeit wird voraussichtlich aber nicht zur Anwendung kommen bei denjenigen Doppelbesteuerungsabkommen, bei denen eine Rückfallklausel (subjekt-to-tax-Klausel) vereinbart worden ist.

Die Finanzverwaltung gewährt die Steuerfreistellung unter Progressionsvorbehalt nach dem BMF-Schreiben vom 21.7.2005 (BMF v. 21.7.2005 – IV B 1-S 2411-2/05, BStBl. I 2005, S. 821) aber auch ohne den in § 50d Abs. 8 EStG verlangten Nachweis bei Einkünften bis 10.000 € je VZ.

Für die praktische Durchführung der Steuerbefreiung in beiden DBA-Staaten muss aber auf den auch in der BFH-Vorlage erläuterten Auskunftsaustausch zwischen den Staaten hingewiesen werden. So sieht das OECD-Musterabkommen in Art. 26 einen Informationsaus-tausch zwischen den Vertragsstaaten vor, der die Verwaltungen berechtigt, die für die Durchführung der Besteuerung im anderen Staat erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Diese Regelung ist in fast allen Abkommen zwischen Deutschland und anderen Vertragsstaaten enthalten, u.a. auch im DBA-Türkei. Die „Keinmalbesteuerung“ wird dadurch deutlich eingeschränkt.

WP/StB Jürgen Dräger, Hamburg

Service: BFH v. 10.1.2012 – I R 66/09

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 24.05.2012 13:25

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